Fetisch Lebenslauf
Andreas Bernard schreibt im Magazin der Süddeutschen Zeitung: <<Die öffentliche Darstellung der eigenen Biografie rückte vermutlich zum ersten Mal in den späten Achtzigerjahren in den Blickpunkt, mit der zunehmenden Bedeutung des „Lebenslaufs“. … In der Fetischisierung des Lebenslaufs lässt sich rückblickend vielleicht dieerste Spur jenes Selbstdesigns erkennen, wie es in den sozialen Netzwerken heute notwendig und allgegenwärtig ist.
Eine spröde Auflistung von Lebensdaten verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit zum Schaubild der eigenen Biografie, inklusive Mannschaftssport-Erfahrung und politischem Engagement. Forciert wurde diese Entwicklung von den Vorgaben der Arbeitgeber, die, wie es Unternehmensberatungen und Elite-Akademien bis heute ausrufen, nicht mehr in erster Linie an tadellosen Noten interessiert sind, sondern an „soft skills“ und „spannenden Persönlichkeiten“.>>
– Kulturkritik meint hier die glorreiche Umwidmung einer biographischen Anekdote zum Epochenumbruch. Kurzsichtigkeit entschuldigt allerdings nicht den Versuch dieses Zeitgeistkritikers, ein emanzipatorisches Instrument wie den Lebenslauf als Fetisch zu denunzieren. Andreas Bernard vernahm in den 80ern von Schul- und Studienfreunden immer häufiger, dass ein bestimmter Kurs oder ein Auslandsaufenthalt „lebenslaufrelevant“ war.
Soweit ich mich erinnere, konnte man zu jeder Zeit was werden, ohne sich groß den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man es zu was bringt: Redakteure zum Beispiel, Lehrer oder Fliesenleger, Erlebnisgastronomen und andere Leute berichten gern davon.
Lassen Sie sich auch im 21. Jahrhundert als Schul- und Uniabgänger oder als Freund von kritischen Journalisten nicht davon abbringen, Ihre private Lebensführung gelegentlich in Bezug auf die Verwertbarkeit für das bürgerliche Erwerbsleben zu justieren. Manche finanzielle Aufwendung macht man ja auch mit Seitenblick auf ihre steuerliche Absetzbarkeit, ohne dass die ESt.-Erklärung gleich zum Fetisch und ohne dass der kreative Nutzer eines Steuerspielraums gleich zum Freak mutiert.
Seien Sie froh über die großartige Möglichkeit, Lehr- und Wanderjahre zu absolvieren, sich dabei in das bunte Leben zu verwickeln, sich zu irren und wieder zu berappeln, Erfolge zu vermelden, Pannen zu erleben und dann und wann über all das gegenüber sich selbst und anderen Zeugnis abzulegen. Ihr Lebenslauf ist ein Resümee. In seiner Wesentlichkeit ergibt er sich aus einem intensiven Prozess der Sichtung, Findung und Vergewisserung.
Sie sind, egal was andere Ihnen empfehlen, nicht auf diese Welt gekommen, um Soft Skills zu faken oder eine spannende Persönlichkeitsstruktur zu simulieren. Kaufleute, Psychologen und Berater reden oft nicht wirklich klug daher.Kulturkritiker aber auch nicht, vor allem dann, wenn sie eine beruflich ausgerichtete Selbstpräsentation als Ausverkauf der Innerlichkeit und als Feilbietung der Substanz issdeuten.
Sie selbst bluten jedenfalls nicht aus, wenn Sie dem Markt Ihr berufliches Profil zur Verfügung stellen. Im Gegenteil, Ihr Faktenblatt zur Person markiert auf eine erhellende (und Sie selbst bestärkende) Weise Ihren Abdruck, Ihre Präsenz und Ihre Absichten in der Welt. Jeder Mensch von Verstand trennt dabei sein privates vom beruflichen Ich – ganz ohne Angst vor Ich-Dissoziation in der ach so kalten und zudringlichen Moderne.
2009, Gerhard Winkler
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