Die Selbstberauschung der Narzissten in der Chefetage
Von Mathias Morgenthaler
Chefs und Schwerverbrecher haben erschreckend viele Gemeinsamkeiten – oft entscheide nur der Zufall darüber, wo und wie Menschen ihre psychopathischen Neigungen ausleben, sagt der Psychiater Reinhard Haller. In seinem neuen Buch* schildert er, warum der Narzissmus überall um sich greift und woran man krankhafte Narzissten trotz ihrer Verstellungskunst erkennen kann.
Herr Haller, Sie schreiben regelmässig Bücher und geben viele Interviews. Sind Sie ein Narzisst?
REINHARD HALLER: Ich kann diese Frage nur bejahen. Zweifellos habe ich meine narzisstischen Anteile, bemühe mich aber, sie in einem gesunden Rahmen zu halten. Und ich schreibe ja nicht nur für mich. Seit mein Buch «Die Narzissmusfalle» erschienen ist, erhalte ich täglich Dutzende Anrufe und Hunderte Mails von Lesern, die mir mitteilen, ich hätte genau ihren Chef oder exakt ihre Partnerin beschrieben. Aber ich will nicht von meinen niederen Motiven ablenken.
Die da wären?
Natürlich wurde auch ich gekränkt und angegriffen in der Vergangenheit. Früher habe ich mich gegrämt und im Stillen ein wenig geflucht über die vielen Kritiker und Ignoranten. Jetzt freue ich mich jedes Mal, wenn ich angegriffen werde, weil ich weiss, dass ich Rache nehmen kann an der mich kränkenden Gesellschaft, indem ich ihr den Narzisstenspiegel vorhalte. Aus dem späten Mittelalter ist der Narrenspiegel überliefert, heute brauchen wir unbedingt einen Narzisstenspiegel.
«Die Zeichen stehen auf Narzissmus», schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie kommen Sie zu diesem Befund?
Gerade hat das «TIME Magazine» eine Titelgeschichte zum Thema «The ME ME ME Generation» veröffentlicht. Der neu gewählte Papst Franziskus hat in seiner Rede kurz vor dem Konklave diagnostiziert, die Krise der Kirche sei eine Krise der narzisstischen Theologie. Neue Medienformate wie Facebook oder Casting-Shows machen die Selbstdarstellung zum Maß aller Dinge. Man kann das in vielen Lebensbereichen beobachten: Unser Umgang mit Ressourcen ist hochgradig narzisstisch, wir konsumieren immer mehr hedonistische Drogen wie Ecstasy oder Kokain, und auch Gewaltverbrechen haben zunehmend eine stark narzisstische Komponente. Wenn Jugendliche an Schulen wild um sich schießen oder Angestellte am Arbeitsplatz ein Massaker anrichten, dann haben wir es meist mit der schrecklichen Inszenierung einer Kränkung zu tun. Die den Taten zugrunde liegende Botschaft lautet meistens: «Dieses eine Mal werdet ihr mich ernst nehmen müssen. Niemand wird übersehen können, dass ich wichtig bin.»
Sind das einfach neue Ausdrucksformen oder erreicht der Narzissmus ein ungekanntes Ausmaß?
Narzissmus gibt es, seit es Menschen gibt – ohne Narzissmus hätten wir kein Selbstwertgefühl und wären zweifelnde Neurotiker. Früher war es allerdings den Mächtigen vorbehalten, ihren Narzissmus auszuleben. In den Briefen von Friedrich Schiller oder Johannes Brahms können Sie nachlesen, dass diese ihre Auftraggeber mit bis zu 25 Titeln anredeten, um ihre Gunst zu gewinnen. «Durchlaucht» und «Hochwohlgeboren» waren noch die einfacheren Huldigungen. Inzwischen ist Narzissmus demokratisch geworden, was zweifellos eine gute Sache ist. Das Problem sehe ich in der schleichenden Umwertung. Früher war Narzissmus als Hochmut und Gier verpönt, später stigmatisierten die Psychiater ihn als psychische Störung, heute wird er geradezu idealisiert – etwa in Form des emotionslosen und durchsetzungsstarken Managers.
Erich Fromm hat geschrieben: «Narzissmus ist das Berufskapital der Chefs.» Der Neurologe Gerhard Roth sagte in einem Interview, die «charismatischen Führer» seien «in aller Regel Psychopathen». Teilen Sie diese Einschätzungen?
Nein, ich unterscheide stärker zwischen Charisma und krankhaftem Narzissmus. Charismatische Führungspersönlichkeiten ragen heraus durch ihre Ausstrahlung, durch pointierte Ausdrucksweise, hohes Selbstbewusstsein und authentische Kommunikation. Der Narzisst dagegen baut auf Schein und ordnet alles der eigenen Selbstdarstellung unter. Er fühlt sich nur dem eigenen Ego, niemals der Sache verpflichtet. Er braucht Lob und Anerkennung wie ein Süchtiger seine Drogen – inklusive Toleranzentwicklung. Wenn wir uns den Charismatiker als Weinkenner und -liebhaber vorstellen, so ist der Narzisst der Junkie, für den das Suchtmittel ohne Wert ist, weil ihm nur an der Selbstberauschung gelegen ist.
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