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Wirtschaftspolitische Reformen 2012. Das Wachstum fördern.

Die neue Ausgabe von Going for Growth beurteilt die Fortschritte, die die Länder seit Beginn der Krise bei den Strukturreformen gemacht haben, wobei der gesamte Zeitraum von 2007 bis 2011 abgedeckt wird. Die Krise hat zwar neue politische Herausforderungen und Erkenntnisse mit sich gebracht, sie hat jedoch auch die Notwendigkeit vieler in Going for Growth aufgeführter Prioritäten deutlicher hervorgehoben.

Angel Gurría, OECD

Die wichtigsten in den Jahren seit Beginn der Krise zu beobachtenden Reformmuster, die in einem Überblick (Kapitel 1) zusammengefasst und in den verschiedenen Länderbeiträgen (Kapitel 2) näher erläutert werden, stellen sich folgendermaßen dar:

• Das Reformtempo war – gemessen an der Reaktivität der Länder im Hinblick auf die Umsetzung der in früheren Ausgaben von Going for Growth identifizierten Reformprioritäten – nach der Krise insgesamt höher als vor der Krise.

• Das Tempo und die Art der Reformen unterscheiden sich in den verschiedenen Phasen der Krise jedoch beträchtlich. Die Rezession von 2008 führte in den OECD-Ländern zunächst zu einer Verlangsamung der Strukturreformen, da sich das Hauptaugenmerk auf die dringende Notwendigkeit richtete, die Gesamtnachfrage zu stabilisieren und die Einkommen der Arbeitslosen zu stützen. Als sich die Dringlichkeit einer mittelfristigen Haushaltskonsolidierung erhöhte, wurden dann Reformen in Politikbereichen wie Rentensystem, Sozialleistungssystem und öffentlicher Sektor durchgeführt, die die Haushaltsanpassung unterstützen können.

 

• Die Krise und die anschließende schleppende Erholung hatten einen Katalysatoreffekt, da sie insbesondere in den OECD-Ländern, in denen die Reformen am dringendsten waren, Strukturreformen auslösten. Die OECDLänder mit niedrigerem Einkommen, in denen der Reformbedarf im Allgemeinen größer ist, und die Länder, in denen der Anstieg der Arbeitslosigkeit während der Krise am stärksten war, haben größere Anstrengungen unternommen, um die in Going for Growth genannten Prioritäten anzugehen, die für sie relevant sind.

 

• Die Notwendigkeit zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und der Druck, mit dem die Finanzmärkte auf die ausufernde Staatsverschuldung reagierten, haben den Reformen seit 2009 weiteren Auftrieb verliehen, was im Widerspruch zu den Erfahrungen der Vergangenheit steht, die darauf schließen ließen, dass eine fiskalische Straffung Reformen tendenziell behindert. Insbesondere in der jüngsten Phase der Krise wurden in den von der europäischen Schuldenkrise betroffenen Ländern politisch sensible Reformen beschleunigt, die darauf abzielen, das Wachstumspotenzial zu erhöhen, preisliche Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wiederherzustellen.

 

• Die Auswirkungen der Krise waren in den BRIICS zwar milder und hielten weniger lange an, sie machten jedoch ebenfalls deutlich, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um ein stärker inklusiv ausgerichtetes Wachstum zu erreichen. Alle in diesem Bericht behandelten aufstrebenden Volkswirtschaften haben Politikmaßnahmen umgesetzt, die darauf abzielen, die Qualität ihres Bildungssystems zu verbessern und es inklusiver zu gestalten, es wurden jedoch weniger Anstrengungen unternommen, um andere wichtige
Prioritäten wie den Abbau von Hindernissen für ausländische Direktinvestitionen und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit anzugehen.

 

Angesichts der in den letzten Jahren unternommenen Schritte sollte Politikmaßnahmen Priorität eingeräumt werden, die im Kontext einer andauernden Konsolidierung der öffentlichen Finanzen die Beschäftigung erhöhen können:

  • E ffektive aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die darauf abzielen, entlassene Arbeitskräfte umzuschulen und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, können die Persistenz der Arbeitslosigkeit reduzieren. Es sprechen gute Gründe dafür, diese Politikmaßnahmen von den fiskalischen Konsolidierungsanstrengungen auszunehmen und sie durch eine Reform der Arbeitslosenunterstützung zu ergänzen, sobald sich die Arbeitskräftenachfrage nachhaltig erholt hat. Insbesondere die krisenbedingte Erhöhung des Leistungsniveaus und/ oder der Anspruchsdauer könnte schrittweise zurückgenommen werden, wobei allerdings ein Teil der jüngst erfolgten Ausweitungen des Arbeitslosenversicherungsschutzes dauerhaften Charakter erhalten könnte.
  • Wachstumsfreundliche Steuerreformen könnten helfen, den Aufschwung beschäftigungsintensiver zu gestalten und gleichzeitig die Haushaltskonsolidierung zu unterstützen, sofern sie so durchgeführt werden, dass die Steuereinnahmen steigen. Dazu gehört der Abbau von Steuervergünstigungen und eine stärkere Verlagerung der Steuerlast hin zu Steuerarten, die die Beschäftigung und das Wachstum weniger beeinträchtigen, wie z.B. Steuern auf unbewegliches Vermögen, Verbrauchsteuern und Umweltsteuern.
  • Reformen der Produkt- und Dienstleistungsmärkte stellen für viele OECD-Länder – insbesondere in Europa – eine Priorität dar und könnten relativ schnelle Auswirkungen auf das Wachstum haben, insbesondere wenn sie in bestimmten geschützten Sektoren wie im Einzelhandel und bei den freiberuflichen Dienstleistungen durchgeführt werden, wo das Potenzial, rasch Arbeitsplätze zu schaffen, recht groß ist.
  • In Volkswirtschaften, die mit erneuten Kapazitätsüberhängen konfrontiert sind, ist es wichtig, die Lehren aus der Krise zu ziehen und Politikoptionen zu nutzen, für die sich gezeigt hat, dass sie die Auswirkungen der Konjunkturschwäche auf den Arbeitsmarkt abfedern können, so z.B. Kurzarbeitsprogramme. Die Krise machte zwar stärker deutlich, dass Strukturreformen notwendig sind, und gab Impulse für Reformmaßnahmen, es wurden aber auch Befürchtungen laut, einige dieser Maßnahmen könnten kurzfristig negative Auswirkungen haben, z.B. wenn sie die Gesamtnachfrage weiter schwächen. Kapitel 4 untersucht unter Zugrundelegung der in den letzten dreißig Jahren in den OECD-Ländern gesammelten Reformerfahrungen die kurzfristigen Auswirkungen von Strukturreformen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Erkenntnissen zu der Frage, wie die derzeitige Reformagenda so gestaltet werden kann, dass sie die Konjunkturerholung fördert.

 

• Die Besorgnis über mögliche negative kurzfristige Auswirkungen von Strukturreformen scheint übertrieben zu sein. Einige Strukturreformen erhöhen das Wachstum offensichtlich recht schnell, und normalerweise sind, wenn überhaupt, nur sehr wenige Reformen mit kurzfristigen Kosten verbunden.

 

• Es dauert allerdings oft eine gewisse Zeit – normalerweise mehrere Jahre – bis die Nutzeffekte der Reformen voll zum Tragen kommen.

 

• Darüber hinaus ist die konjunkturelle Entwicklung für die kurzfristigen Auswirkungen von Reformen von Bedeutung. Es gibt gewisse Belege dafür, dass sich die Wirtschaftslage in „schlechten Zeiten“ durch bestimmte Arbeitsmarktreformen (insbesondere in Bezug auf den Arbeitslosenversicherungs- und den Kündigungsschutz) vorübergehend noch weiter eintrüben kann. Bei einer nur schleppend verlaufenden Konjunktur kann es deshalb besser sein, diese Reformen erst dann durchzuführen, wenn auf dem Arbeitsmarkt klare Anzeichen einer Erholung zu erkennen sind – es sei denn, die derzeitige Politik wäre eindeutig als fehlgeleitet zu bewerten.

 

• Ein gut durchdachtes Reformpaket für die Arbeits- und Produktmärkte hätte den größten Nutzeffekt und würde die Übergangskosten bestimmter Einzelreformen verringern – so kann z.B. die Liberalisierung der Produktmärkte in Kombination mit einer Reform des Kündigungsschutzes oder der Arbeitslosenunterstützung mögliche durch letztere bedingte Reallohneinbußen abmildern.

 

• Die kurzfristigen Auswirkungen von Strukturreformen sind größer, wenn das Vertrauen durch eine gute Kommunikationsstrategie und einen starken und gut regulierten Bankensektor gefestigt wird und die privaten Haushalte und Unternehmen dadurch dazu veranlasst werden, ihre Ausgaben in Erwartung zukünftiger reformbedingter Einkommenssteigerungen zu erhöhen. Die in den letzten Jahrzehnten in den meisten OECD-Ländern festzustellende Zunahme des Einkommensgefälles hat Befürchtungen hervorgerufen, dass Strukturreformen – und damit einige der in Going for Growth aufgeführten Prioritäten – die Einkommensungleichheit vergrößern könnten. Diese Befürchtungen haben durch die Krise an Bedeutung gewonnen, insbesondere in den Ländern, in denen die derzeitigen Reformanstrengungen hauptsächlich auf Haushaltskonsolidierungsziele ausgerichtet sind.

 

Kapitel 5 untersucht die Komplementaritäten und Zielkonflikte zwischen Maßnahmen zur Reduzierung der Ungleichheit und Maßnahmen zur Förderung des Wachstums:

 

• Viele Strukturreformen bringen eine doppelte Dividende, da sie die Einkommensungleichheit verringern und gleichzeitig das langfristige Pro-Kopf-BIP erhöhen. Beispiele hierfür sind die Förderung der Bildung von Humankapital, insbesondere im Sekundarbereich, die Erhöhung der Effizienz und der Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, die Verringerung der Zweiteilung des Arbeitsmarkts, die Förderung der Integration von Zuwanderern und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der Frauen. Die Reduzierung der Steuervergünstigungen und Grenzsteuersätze dient normalerweise auch beiden Zielen.

 

• Bei anderen Reformen kann es jedoch zu einem Zielkonflikt zwischen Wachstum und Einkommensverteilung kommen. So können z.B. die Arbeits-, Spar- und Investitionsanreize erhöht werden, wenn der Steuermix so geändert wird, dass die Steuern auf Arbeits- und Unternehmenseinkommen verringert und die Verbrauchsteuern erhöht werden, dadurch kann jedoch auch die Verteilungsgerechtigkeit beeinträchtigt werden. Gezielte Geldleistungen für niedrige Einkommensgruppen können diesen Zielkonflikt jedoch abschwächen.

Die Einkommensverteilung hängt nicht nur mit langfristigen Trends wie den politischen und institutionellen Veränderungen, dem technologischen Wandel oder der Globalisierung zusammen, sondern sie wird auch – und manchmal sogar dauerhaft – durch makroökonomische Schocks wie die jüngste Finanzkrise beeinflusst. Kapitel 6 untersucht auf der Grundlage von empirischen Analysen für vierzig OECD- und BRIICS-Länder aus einem Zeitraum von dreißig Jahren die Auswirkungen makroökonomischer Schocks auf die  Einkommens- und Beschäftigungsverteilung sowie die Möglichkeiten, diese Effekte durch Politikmaßnahmen und Institutionen zu beeinflussen. Das Kapitel identifiziert die Gewinner und Verlierer und beleuchtet die Zusammenhänge zwischen den Zielen in Bezug auf Risikoteilung und Wachstum:

 

• Die Erfahrung zeigt, dass die Einkommen der ärmeren Bevölkerungsgruppen und die Beschäftigungschancen junger Menschen in schlechten Zeiten zumeist am stärksten beeinträchtigt werden, sich in guten Zeiten aber auch am deutlichsten verbessern. In den vergangenen Finanzkrisen wurden sowohl die privaten Haushalte mit hohem Einkommen als auch die ärmeren Bevölkerungsgruppen stärker in Mitleidenschaft gezogen als die Mittelschicht.

 

• Beispiele für Reformen, die die Risikoteilung verbessern können und außerdem Wachstum und Beschäftigung fördern, nicht zuletzt durch die Erleichterung der Arbeitskräftereallokation innerhalb der Volkswirtschaft, sind die Liberalisierung der Produktmärkte, die Beseitigung von Hemmnissen für den Handel und für ausländische Direktinvestitionen sowie die Senkung hoher Steuern auf den Faktor Arbeit.

 

• Die durch frühere Schocks ausgelösten Arbeitsplatz- und Einkommensverluste gefährdeter Gruppen wurden offenbar durch verschiedene Sozialschutzprogramme abgemildert, da solche Programme jedoch auch negative Auswirkungen auf Beschäftigung und  Einkommen haben können, ist bei ihrer Konzeption besondere Sorgfalt geboten. Dies gilt insbesondere für eine großzügige Arbeitslosenunterstützung, hohe Mindestlöhne und einen strengen Kündigungsschutz.

 

• Die Länder können in Bezug darauf, welches Gewicht in den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen jeweils auf die soziale Sicherung und auf die Förderung der Arbeitskräftereallokation gelegt wird, in vier Gruppen eingeordnet werden: Die meisten kontinentaleuropäischen Länder gewährleisten die Teilung des Einkommensrisikos hauptsächlich über Sozialversicherungssysteme, während sich die englischsprachigen Länder und die asiatischen OECD-Länder hauptsächlich auf Institutionen stützen, die die Arbeitskräftereallokation fördern. Die nordischen Länder kombinieren in der Regel beide Instrumente, in den aufstrebenden Volkswirtschaften sind dagegen in keinem dieser Bereiche ausreichende Strukturen vorhanden. Eine effektive Politikmischung, die auf beide  Ziele – Risikoteilung und Wachstum – ausgerichtet ist, kombiniert Institutionen, die die Arbeitskräftereallokation fördern – d.h. Institutionen, die immer beiden Zielen dienen –, mit einem gut durchdachten Sozialversicherungssystem, d.h. einem System, das ein bestimmtes Versicherungsziel zu minimalen Kosten erreicht.

Going for Growth

In Going for Growth identifiziert die OECD seit 2005 für jedes OECD-Land und seit der Ausgabe 2011 auch für die BRIICS – Brasilien, China, Indien, Indonesien, Russland  und Südafrika, d.h. wichtige Nichtmitgliedsländer, mit denen sie eng zusammenarbeitet – die strukturpolitischen Prioritäten zur Steigerung des Realeinkommens. Durch dieses Verfahren erhalten die Regierungen ein Instrumentarium zur Prüfung von wirtschaftspolitischen Reformen, die den Lebensstandard ihrer Bürger langfristig  beeinflussen. Die in Going for Growth durchgeführten Analysen fließen darüber hinaus seit dem Gipfel von Pittsburgh im Jahr 2009 in den gegenseitigen  Bewertungsprozess (Mutual Assessment Process) der G20 ein.

Economic Policy Reforms 2012. Going for Growth – ISBN 978-92-64-168251 © OECD 2012

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