Fachkräftemangel ist vor allem Ideenmangel – Gespräch mit Provotainer Martin Gaedt
Ein Beitrag von Prof. Dr. Peter M. Wald
Der diesjährige HR Innovation Day rückt näher. Es ist eine gute Tradition, die Keynote-Speaker durch Interviews vorzustellen. Heute steht mir Martin Gaedt für ein Gespräch zur Verfügung. Martin Gaedt ist ein viel beachteter Buchautor („Mythos Fachkräftemangel“ und „Rock your Idea“), der mit seinen Statements und Äußerungen oftmals die „wunden Punkte“ bei seinen Zuhörern anspricht. Mit seinen Aussagen eröffnet er neue Sichtweisen auf bekannte Probleme, denen er mit kreativen Lösungen begegnet. Darüber hinaus ist Martin Gaedt ein guter alter Bekannter, der mit seiner Keynote zum Thema „Fachkräftemangel“ zum HR Innovation Day 2014 für Aufsehen gesorgt hat. Hier erinnere ich mich auch daran, dass sich trotz vieler Anfragen keiner der Apologeten des Fachkräftemangels der Diskussion stellen wollte oder dazu nur bei Zahlung entsprechender Honorare bereit war. Ich bin mir sicher, dass seine Keynote zum Thema „Rock your Recruiting – 7 Milliarden Wege zu 7 Milliarden Menschen“ ein Highlight des HR Innovation Days 2018 sein wird. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich ihn erneut für eine Reise nach Leipzig gewinnen konnte.
Peter: Martin, wie ist es Dir in den letzten Jahren ergangen? Hast Du offene Ohren für Deine Ideen gefunden? Und: was verstehst Du unter Provotainment?
Martin: Viele offene Ohren, aber wenige Neu- & Anders-Täter. 23 Millionen Unternehmen werben in Europa um Fachkräfte. Was ist das echte Problem? Fachkräftemangel? Oder die Unbekanntheit der 23 Millionen? Ideenmangel? Digitalisierungsmangel? Estland spart jährlich 800 Jahre Arbeitszeit in der Verwaltung durch die konsequente Digitalisierung. Auf 82,6 Millionen Deutsche hochgerechnet könnten wir 50.954 Jahre Arbeitszeit sparen – pro Jahr. Hand aufs Herz: Haben wir Fachkräftemangel in der Verwaltung oder Digitalisierungsmangel? Wir können doch nicht so weiter machen wie im letzten Jahrtausend und alles auf den Fachkräftemangel schieben.
Provotainment bedeutet, dass ich in Büchern und Vorträgen provoziere und entertaine. Ich rege mich öffentlich auf und stoße damit unterhaltsam Veränderung an. Eine Hotelierin aus Coburg rief mich 18 Monate nach einem Vortrag an um mir zu berichten, dass sie ihren Fachkräftemangel erfolgreich beendet hat durch eine Idee aus meinem Vortrag. Eine der Maßnahmen, die kein Geld kosten, aber „Wunder“ wirken. Wie du in den Wald rufst, so kommt es zurück. Das gilt auch in der Personalgewinnung. Und das hat sie beherzigt und konsequent geändert.
Statistisch erlebt Deutschland mit 44 Millionen Erwerbstätigen einen Rekord an Fachkräften. Hinzu kommen 4 Millionen qualifizierte Deutsche, die im Ausland arbeiten. Wir sind Vize-Auswanderungs-Europameister knapp hinter Polen. Hätten wir mit unseren Betrieben bessere Angebote gemacht, wäre der Großteil der vier Millionen Auswanderer geblieben. Angebotsmangel?! Unsere Bevölkerung wächst bis zum Jahr 2035 auf mehr als 83 Millionen Menschen statt auf 70 Millionen zu sinken wie jahrzehntelang vorausgesagt wurde. BITTE, schaut genau hin und lasst euch nicht von Schlagzeilen blenden. Mit Umfragen und Schlagzeilen wird SEHR viel Geld verdient. Ich glaube vor allem den Zahlen des statistischen Bundesamtes: Bis 2012 haben 64 Prozent aller Schulabgänger in Deutschland eine Ausbildung begonnen. WOW! 2016 ist die Zahl „abgestürzt“ auf 61 Prozent und 2017 prompt wieder gestiegen auf 62 Prozent. Mangel? Welcher? Auch im Handwerk sind die Azubi-Zahlen 2017 gestiegen. Können wir bitte aufhören, pauschal von Mangel zu sprechen! Lars Fiehler, Sprecher der Industrie- und Handelskammer Sachsen, sagt: „Einen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt es nicht. Die viel zu hohen Zahlen basieren nicht selten auf diffusen Hochrechnungen. Jeder weiß das, trotzdem plappern es alle nach.“
Peter: Was meinst Du, warum fällt es vielen Verantwortlich so schwer, gerade bei Recruiting-Themen die gewohnten Denkmuster und Lösungen hinter sich zu lassen?
Martin: Ich komme gerade zurück von einer Radtour an der Elbe von Lutherstadt Wittenberg bis Hamburg. Wunderschön. Dabei entstand die Idee des „Radtour-Recruitings“. Viel mehr Deutsche fahren auf Radtouren ab als auf Berliner Elektro-Clubs. Die absolute Mehrheit der Deutschen lebt kleinstädtisch und ländlich. Also nutzt den Sport zur Personalgewinnung. Ein Betrieb kann in Radler-Foren oder auf XING begeisterten Radlern, die das gesuchte Jobprofil erfüllen, eine Radtour entlang der Saale, Elbe, Donau oder Mosel anbieten. Auf der Radtour lernt der Personalgewinner die Radler kennen und umgekehrt die Radler den potenziellen neuen Chef. Da es das noch nie gab, werden diverse Medien darüber berichten. So wie beim Hype um den Glaser in Cuxhaven, der ein Glas zu Boden fallen ließ und per viraler Verbreitung drei Azubis gefunden hat. Das war originell!
Die meisten Unternehmen realisieren nicht, dass Aufmerksamkeit das wirklich rare Gut ist. Edeka hat für „heimkommen“ in nur 10 Tagen 40 Millionen Klicks auf Youtube bekommen. Das bedeutet, es gibt 40 Millionen Klicks weniger für Stellenanzeigen. Webserien wie „Wishlist“ und Streaming Dienste wie Netflix besetzen Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ist die Zahl der Stellenbörsen inflationär auf 2.500 gestiegen. Wie wahrscheinlich ist die passende Fachkraft ausgerechnet in den Jobbörsen auf der Suche, wo ein Unternehmen Anzeigen schaltet? Wissen Sie, wer sich NICHT bei Ihnen bewirbt? Immer die Mehrheit potenzieller Mitarbeiter. Wie bekommt Ihr Betrieb Aufmerksamkeit für offene Stellen? Nur was überrascht und originell ist, bekommt Hingucker. Wer das geschafft hat, bekommt wenige Sekunden, um zu überzeugen. Das meist genannte Wort in Stellenanzeigen ist „u.a.“, das überzeugt mich nicht. Zurecht werden immer mehr Mitarbeiter über Netzwerke und durch die eigenen Mitarbeiter gewonnen. Das setzt allerdings eine gesunde Unternehmenskultur voraus. Herrscht Fachkräftemangel oder Kulturmangel in Unternehmen mit Fachkräftemangel?
Eine Millionen Handwerksbetriebe und eine Million Einzelhändler könnten sich Fachkräfte von Kunden und Passanten empfehlen lassen. Ein Bäcker könnte für eine empfohlene Fachkraft, die er einstellt, ein Jahr Brot und Brötchen umsonst anbieten. Ein Friseur könnte mit einem Jahr Haarschnitt für erfolgreiche Empfehlungen werben. WARUM macht das keiner? Es kostet nichts, und würde sich herumsprechen. Ideenmangel? Aufmerksamkeitsmangel? Machermangel? Oder Fachkräftemangel?
Peter: Ist dies vielleicht auch eine Generationenfrage? Ist bei jungen Personalern der Ideenmangel geringer?
Martin: Ein innovativer Kopf hat mit dem Alter nichts zu tun. Die erfolgreichsten Gründer sind im Durchschnitt über 40 Jahre alt. Ob das für Personaler auch gilt, weiß ich nicht. Unabhängig vom Alter: Mit der Bereitschaft, alles in Frage zu stellen – auch die eigene Erfahrung, steigt die Ideendichte und Qualität. Verhindert werden die meisten Ideen durch feststehende Prozesse, alteingesessene Organisationen und undurchlässige Strukturen. Hinzu kommt die ignorante Arroganz des Erfolgs. Nur weil der Gesundheitsminister Pflegekräfte im Ausland suchen will, heißt es nicht, dass diese auch zu uns kommen wollen. Die Realität beschreibt das „Ärzteblatt“: „Ausländische Pflegekräfte haben geringes Interesse an Deutschland“ oder drastischer auf „Focus Online“: „Pflege in Deutschland international nicht konkurrenzfähig“. Haben wir Pflegekräftemangel oder Attraktivitätsmangel? Folgt auf Twitter dem Hashtag #twitternwierueddel. Beschäftigte in der Pflege schreiben über ihren Arbeitsalltag. Das sind unerträgliche Zustände. Konzerne machen mit der Pflege Milliarden-Gewinne, während Pflegekräfte seit Jahren auf Platz 1 der Krankenstatistik stehen. Ich gebe zu: Im starren, unattraktiven und weitgehend nicht digitalisierten System haben wir Fachkräftemangel, der sich aus diversen Mängeln speist: Unternehmenskulturmangel. Wertschätzungsmangel. Organisationsmangel. Und dem mangelnden Willen, sich an erfolgreichen Modellen beispielsweise in den Niederlanden zu orientieren. 10.000 gesunde, glückliche Mitarbeiter in der ambulanten Pflege – ohne Management. Das geht in Deutschland natürlich nicht, denn das Management hat sich noch nie selbst abgeschafft. Neuen Ideen stehen immer alte Interessen im Weg.
Peter: Was sind aus Deiner Sicht die wichtigsten Möglichkeiten, um den Ideenmangel gerade beim Recruiting zu überwinden?
Martin: Werdet Besser-Frager statt Besserwisser. Ideen zu spinnen ist trainierbar. Täglich. Allerdings ist keine Idee sofort perfekt. Ich trainiere seit 20 Jahren Ideenfitness, und die meisten meiner Ideen sind Schrott. Das Potenzial von Ideen zeigt sich erst in der Begegnung mit Menschen und an deren Resonanz. Bitte macht nicht alle dasselbe. 7 Milliarden Wege führen zu 7 Milliarden Menschen. Mixt Cocktails bis sie schmecken. Kombiniert immer neue Zutaten. Nehmt eure Unsichtbarkeit unter 3,6 Millionen Unternehmen in Deutschland ernst und ragt heraus. Beantwortet Menschen glaubwürdig die wichtigste Frage: „WaBriMiDa?“ Das wollen alle wissen. Feiert Jobpartys und testet aktives Sport-Recruiting. Und wenn neue Mitarbeiter unterschreiben, denkt dran, dass die Unterschrift bedeutet: Jetzt geht`s erst richtig los in der „Candidate und Employee Experience“. Der Arbeitsalltag zeigt, ob neue Mitarbeiter wirklich willkommen sind und ihr Potenzial entfalten können. Oder ob sie außerhalb ihrer Stärken und gegen Werte arbeiten müssen. Dann kündigen Mitarbeiter, und das Karussell dreht sich weiter. Behandelt Bewerber und Mitarbeiter wie Kunden. Dann klappt das!
Peter: Die Standardfrage stelle ich zum Schluss. Warum kommst Du erneut zum HR Innovation Day?
Martin: Weil du mich eingeladen hast, zu provotainen. Ich bin „Ja“-Sager. Ich ergreife Chancen. Von deiner vielseitigen Mischung an spannenden Gästen werde ich gerne viele neue Impulse mitnehmen. Außerdem ist Leipzig immer eine Reise wert.
Peter: Bereits heute herzlichen Dank für Deine erneute Unterstützung des HR Innovation Days. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit beim HR Innovation Day 2018.
Mein Gesprächspartner Martin Gaedt ist Provotainer, Ideenfitness-Trainer und Innovator, Gründer und Unternehmer, Recruiter und Autor. Martin spricht mit Personalverantwortlichen quer durch Deutschland in Schleiz, Greiz, Freyung, Regen, Herrenberg, Wildeshausen, Simmern, Itzehoe, Schiffdorf, Wilhelmshaven, Cuxhaven, Rostock, Coburg, Frankenthal, usw.
Dieser Artikel ist auf dem Leipziger HRM Blog erschienen.