Im Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger: „Wir sind in Deutschland noch viel zu national aufgestellt“
Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger, bis Oktober 2012 Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, erhält den Leonardo – European Corporate Learning Award 2012 in der Kategorie „Thought Leadership”. Der Preis richtet den Fokus auf Persönlichkeiten, die bei Innovationsbestrebungen Wert auf intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum für Europa legen. In diesem Interview spricht Prof. Bullinger über seine Berührungspunkte mit dem Namensgeber des Bildungspreises, Leonardo da Vinci, und sein bisheriges Wirken für Bildung und Innovation.
Herr Prof. Bullinger, welche Bedeutung hat die betriebliche Weiterbildung für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum in Europa?
Ohne betriebliche Weiterbildung geht es gar nicht. Wir alle bejahen die Idee vom lebenslangen Lernen. Aber wir nehmen sie dennoch zu wenig ernst. Um intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen, müssten wir das lebenslange Lernen verstärkt an den betrieblichen Aufgaben festmachen. Das ist eine neue Wachstumsform, in Beschreibungsgrößen, die viele Verantwortliche noch nicht in die Praxis von Ausbildung oder Studium aufgenommen haben. Betriebliche Weiterbildung dürfen wir uns nicht wie eine Schulklasse in einem abgeschlossenen Raum vorstellen, sondern viele der Lernprogramme finden unmittelbar in der echten Arbeitsumgebung statt. Dabei ist betriebliche Weiterbildung heutzutage wie das Rudern gegen den Strom: Wer aufhört, treibt zurück.
Wie müssen Unternehmen betriebliche Weiterbildung gestalten, damit sie nicht zurücktreiben?
Sie müssen betriebliche Weiterbildung als zentrale, integrale Aufgabenstellung für Vorgesetzte verstehen und nicht als Anhängsel von Führung. Die Führungskräfte sind verantwortlich für die Weiterbildungsziele der Mitarbeiter. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, wie sie dieser Aufgabe nachkommen, was zukünftige Weiterbildungsziele sind und wie sie im Kontext mit sonstigen Planungen der Unternehmen stehen.
Die künstlerische Leiterin der diesjährigen Dokumenta, Carolyn Christov-Bakargie, hält Künstler für die wichtigsten Wissensproduzenten. Mit dem Namensgeber Leonardo da Vinci erinnert der Preis auch an die künstlerische Seite von Lernen und Wissen. Wie sehen Sie die Verknüpfung?
Leonardo zeichneten vor allem seine Kreativität und sein Wissen aus. Von der Documenta und der dort laufenden Diskussion herkommend zu sagen, dass die Künstler der größte Wissensspeicher sind, scheint mir doch einigermaßen gewagt. Der entscheidende Punkt für die betriebliche Aufgabenstellung ist doch, dass beides zusammenkommen muss: Wissen und Freiraum für geschulte Kreativität. Kreativität im Betrieb heißt, dass man etwas Ungewohntes mit neuen Beziehungsmustern durchdenken und realisieren kann. Dabei hilft Kreativität ungemein, aber sie muss auf jemand Vorbereiteten treffen, der über das entsprechende Wissen verfügt.
Im Bionic Learning Network, in dem sie mit Firmen wie Festo zusammenwirken, treffen diese zwei Seiten zusammen.
Richtig. Und das ist auch für die Ausbildung an der Universität wichtig, dass wir nicht nur auf Wissensvermittlung Wert legen, sondern auch kreativitätsfördernde Fächer mit aufnehmen. Als ich noch in der Lehre tätig war, habe ich mich gemeinsam mit Kollegen sehr dafür eingesetzt, dass für Studierende im Maschinenbau auch nicht-technische Fächer Pflicht sind. Das war zwar nur ein geringer Umfang, aber geprägt von dem Gedanken, dass noch etwas dazu muss.
Vernetzung und transdisziplinäre Kooperation werden von vielen propagiert. Doch oft bleiben das Schlagworte, bisweilen stark verengt auf Social Media. Wie gelingt Ihnen bei Fraunhofer Interdisziplinarität?
Social Media allein führt nicht zu transdisziplinärer Kooperation. Wir haben bei Fraunhofer Social Media eingeführt, weil es Begegnungschancen schafft. Was wir aber darüber hinaus brauchen sind Zusammenarbeitschancen. Ingenieure können viel von künstlerischen Vorgehensweisen wie der Verfremdung einer Fragestellung oder der Skizzierung einer Lösung in groben Umrissen lernen. Aber Social Media ist nach unserem Verständnis lediglich eine Plattform, um interessante Partner kennenzulernen. Und daraus mögen sich dann Zusammenarbeitsformen ergeben, aber nicht ohne die entsprechende Unternehmenskultur. Wir haben uns entschieden, die Fraunhofer Gesellschaft nach Spielregeln zu führen. Und an der Definition dieser Spielregeln beteiligen wir die Menschen so viel wie möglich. Das Management hat die Aufgabe, dass die Spielregeln auch in den geschaffenen Freiräumen eingehalten und nicht für andere Zwecke ausgenutzt werden. Für mich gehört zum kompletten Bild einer Führungskraft auch dazu, dass sie eine Basis für Informationen und eine Vertrauenskultur in Unternehmen schafft – ohne Leistungsprinzipien aufzugeben. Das Ende des Prinzips, dass der Chef alles immer besser weiß, wirkt sich positiv auf den Austausch aus. Und das sehen wir nicht nur an unserem eigenen Beispiel, sondern auch in vielen Unternehmen, mit denen wir gemeinsam Projekte durchführen.
Das erinnert an das Erfolgskonzept der Spanier bei der diesjährigen Europameisterschaft, an den Trainer del Bosque, der die Leinen lockerlässt, aber umgekehrt die Prinzipien und Spielregeln sehr starr hält.
Ja, der Trainer ist dafür verantwortlich, dass seine Spieler das Richtige lernen und sich weiterbilden. Aber das Entscheidende ist: Spielen tut er nicht. Wenn das Spiel läuft, lässt er die Spieler spielen. Wir müssen auch im Betrieb sehen, dass es die zentrale Aufgabe ist, Wissen zu vermitteln, zur Verfügung zu stellen und Mitarbeiter zu qualifizieren. Aber im täglichen Handeln den Freiraum zu entfalten, das muss man den Beschäftigten überlassen.
Ist dieser Freiraum aus Ihrer Sicht eine Garantie dafür, dass Innovationen, also neue Produkte und Dienstleistungen entstehen?
Er ist eine gute Voraussetzung dafür, Erfindungen zu machen, aber noch nicht automatisch eine Voraussetzung, um verkaufsfähige Produkte zu schaffen. Dazu braucht man ein gutes Innovationsmanagement und daran hapert es in Deutschland. Wir haben hier zwar viel erfunden, wie das Fax und den Computer. Aber wir haben nichts daraus gemacht: Wir haben kein deutsches Fax und keinen deutschen Computer. Wir vom Fraunhofer haben den MP3-Standard erfunden, aber in Deutschland zwei Jahre lang keine Firma gefunden, die bereit gewesen wäre, ihn mit uns an den Markt zu bringen. Unseren Analysen zufolge gehören vier Dinge zu einem erfolgreichen Innovationsmanagement: eine klare Strategie, das beste Team, der Wille zu gewinnen und schließlich das nnovationsmanagement. Von den vier Punkten tangieren zwei die Bildungsdebatte sehr massiv: Das beste Team weltweit und die Motivationsaufgabe, wie im Sport einen unbeugsamen Siegerwillen zu entwickeln. Weiterbildung ist also auch ganz zentral im Innovationsgeschäft.
Der Leonardo Award prämiert Innovation, die in einem nachhaltigen Sinn verantwortungsvoll ist. Wie fördern Sie das?
Nachhaltigkeit ist ein Thema, das uns einholt. Fraunhofer hat viele Dinge aufgelegt, die jetzt diskutiert werden – zum Beispiel die Initiative „Morgenstadt“, die Vision von einer CO2-neutralen und lebenswerten Stadt. Damit wollen wir zeigen, dass nachhaltige Entwicklung möglich ist. Heute wird Nachhaltigkeit zwar lediglich von verantwortungsbewussten Zeitgenossen realisiert, aber da können wir ganz ruhig bleiben: Morgen wird sie aufgrund von wirtschaftlicher Notwendigkeit kommen, weil Firmen feststellen, dass sie mit energieeffizientem und umweltfreundlichem Vorgehen bessere Marktchancen haben. Im Hinblick auf Methoden von Nachhaltigkeit und Umweltfragen hat sich beim Bildungsangebot in Deutschland schon viel getan. Die Nachhaltigkeit dabei isoliert zu betrachten, macht keinen Sinn.
Die Produkte und Arbeitswelten sind heute so komplex, dass sie nicht mehr ohne weiteres von jemand wie Leonardo überschaut werden könnten, obwohl er ein ausgesprochenes Genie war. Doch Leonardo steht durchaus für die Verknüpfung von Innovation, erdverbundenem Business, das die betriebswirtschaftliche Seite nicht vernachlässigt, und von forschenden, visionären Seiten des Lernens.
Das stimmt. Als wir vor 20 Jahren am Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation damit begonnen haben, die ganzen Arbeitsstrukturen neu auszurichten und den Bereich Arbeitspädagogik aufzubauen, da haben wir auch Pädagogen, Soziologen und Psychologen dazu genommen – die ganzen „Schwätzer“, wie wir unter Ingenieurskollegen gern gesagt haben. Wir haben gemerkt, dass wir sie brauchen, wenn wir eine andere Arbeitsstruktur einführen und die Beschäftigten befähigen wollen, mit neuen Anforderungen fertig zu werden. Das hat sich ungeheuer bewährt. Bis zum heutigen Tag haben wir bei uns am Institut ein Drittel Ingenieure, ein Drittel Betriebswirte und ein Drittel Sozialwissenschaftler. Natürlich mussten sie sich an die Zusammenarbeit gewöhnen. Zum Akquirieren war es zum Beispiel immer geschickter, einen Ingenieur und einen Betriebswirt mitzunehmen, aber wenn es darum ging, die Struktur anzufahren, wäre das ohne den Input der Sozialwissenschaftler so erfolgreich nicht möglich gewesen.
Die Fraunhofer-Gesellschaft steht für innovative Technologien, auch in der Weiterbildung. Sie haben unter anderem 3-D-Lernanwendungen vorangebracht…
Bei 3-D-Anwendungen geht es um Immersion – also um die Frage, wie stark jemand mit dem Medium in Kontakt tritt. Immersion meint die Einbindung eines Nutzers bei einer Mensch-chner-Interaktion. Je mehr das Medium den Nutzer gefangen nimmt, umso größer kann der Lernerfolg sein. Leider ist dieser Lernerfolg nicht garantiert, denn wir können halt auch dumme Dinge damit vorführen. Aber für das Lernen bietet der hohe Immersionsgrad von 3-D und Virtual Reality ein großes Potenzial. Wir haben am IAO ein neues „Zentrum für Virtuelles Engineering ZVE“ gebaut, in dem wir bei Tageslicht Full HD im Virtual-Reality-Bereich haben. Da stehen wir zwar noch am Anfang, aber das zeigt, was noch kommen wird – da sind wir noch lange nicht am Ende der Fahnenstange.
Auch an Applikationen für Mobile Learning forschen Sie. Wie werden neue mobile Techniken das Lernen verändern?
Nach MP3 spielt heute der neue Standard für mobile Videoübertragung und Fernsehen H.264 eine große Rolle, an dessen Entwicklung wir mitgewirkt haben. Unser Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Berlin hält im Moment den Weltrekord in der Datenübertragung: Der liegt bei 10.2 Terabit pro Sekunde. Das sind etwa 240 DVDs in einer Sekunde. Wenn man so schnelle Datenübertragungssysteme mit immersiven Technologien koppelt, sind neue Lerninhalte gefragt. Das reine Faktenlernen wird noch stärker zurückgedrängt, weil der Nutzer jederzeit hochaktuelle Informationen aus einer Datenbank holen kann. Deshalb wird die Führungsarbeit für die Bildung eine noch größere Bedeutung bekommen. Wir haben gemeinsam mit der Universität Dortmund und der Universität Stuttgart neue Online-Studiengänge konzipiert, zum Beispiel einen Master Online im Logistikmanagement oder Master Online Bauphysik. Dieleben davon, dass sie über so große Datenmengen eine größere Immersion schaffen können.
Inwiefern bringen Sie diese zukunftsweisenden Technologien bereits zusammen – auch mit Aspekten der Führungskultur?
Die letzten zehn Jahre, die ich die Fraunhofer-Gesellschaft leiten durfte, war diese Verbindung unser zentrales Anliegen. Wir haben es so formuliert: Es geht nicht nur darum, ein Netzwerk zwischen den verschiedenen Disziplinen bei Fraunhofer zu bilden, sondern einen Netzwert zu definieren. Wir wollen eine Kundennetzwertgruppe aufbauen, in der wir Projekte akquirieren, die diese Technologien verbunden anbieten können. Das ist für die Frage, wie Fraunhofer weiterkommt, ein ganz wichtiger Aspekt – auch in der Forschung. Vielleicht sind wir dabei schon besser als andere, aber wir sind noch nicht gut genug.
Wie interagieren Sie mit Akteuren außerhalb der Fraunhofer-Welt?
Um einen Innovationsprozess voranzubringen, müssen wir auch schauen, welche Player dazu etwas beitragen können. Ich habe nie vorgehabt, Politik zu machen. Aber als ich irgendwann erkannt habe, dass politische Rahmenbedingungen verändert werden müssen, da musste ich auch versuchen, in diesem Umfeld etwas zu bewegen. Die deutsche Regierung hat in den vergangenen Jahren ihre Bildungsanstrengungen enorm erhöht – auch in finanzieller Art und Weise bei Forschungseinrichtungen oder Universitäten. Der Haushalt von Frau Schavan ist der einzige in der Legislaturperiode, der ungekürzt davonkam und sogar mit einem Zuwachs von 12 Milliarden Euro dastand.
Sie waren zum Teil recht eng beratend für die Regierung tätig. Wie haben Sie das empfunden?
Was wir damals als Clubpartner für Innovation bei Kanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 formuliert hatten, war eine gewisse Vorprägung. Da sind zentrale Weichenstellungen passiert. Dann hatten wir das Glück, dass wir eine Kanzlerin bekommen haben, die Physik studiert hat, Probleme versteht und klug genug war, Bildungsfragen dem Forschungsministerium zu überlassen und sich nicht einzumischen. Wir können uns darüber nicht beklagen. Selbstverständlich kann die Politik nicht alle Probleme für uns lösen, aber Frau Schavan hat mit ihrer Mannschaft solide Arbeit geleistet – auch ohne ständig in den Medien zu sein.
Wie sieht die Situation auf europäischer Ebene aus?
Bildung muss stärker europäisiert werden. Damit das Studium über Grenzen hinweg möglich ist, haben wir Bachelor- und Masterprogramme eingeführt. Aber wir müssen auch auf anderen Ebenen der Ausbildung dafür sorgen, dass wir europäischer werden – etwa beim Thema Sprachen. Europa muss im Vergleich mit asiatischen, osteuropäischen und lateinamerikanischen Wettbewerbern ganz eindeutig an Innovationstempo zulegen.
Sie haben als Präsident der Fraunhofer Gesellschaft viel erreicht. Was liegt Ihnen noch am Herzen?
Wir sind in Deutschland noch viel zu national aufgestellt. Deshalb war es für uns ganz wichtig, Fraunhofer stärker zu internationalisieren. Und das wird sicher auch nach meiner Zeit ein wichtiges Anliegen sein. Auch beim Thema Ausgründungen haben wir noch Potenzial. Ich habe zu meinem designierten Nachfolger Reimund Neugebauer, den ich gut kenne, gesagt: „Die 100 Fehler, die ich gemacht habe, brauchst Du nicht mehr zu machen. Du darfst neue Fehler machen.“
Interview: Günther M. Szogs und Stefanie Hornung