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Trotz Bier, Buchdruck, MP3 und Airbags: Deutschlands Innovationskraft geht gefährlich zurück

Deutschland hat vier Innovationen hervorgebracht, die aus der heutigen Welt nicht mehr weg zu denken sind: Bier, Buchdruck, MP3-Player und Airbags. Doch Innovationskraft ist kein Selbstläufer. Die Projektpartner ZAAG, GfWM und Hays gingen den Ursachen in einer empirischen Untersuchung auf den Grund.

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Innovation sieht anders aus

Digitale Umbrüche in Branchen und Geschäften, disruptive Veränderungen in Technologie und Gesellschaft, anhaltend hohe Volatilität: Die aktuellen Entwicklungen eröffnen in immer schnellerer Folge viele neue Optionen, Perspektiven, Risiken und Chancen. Um in diesem Kontext erfolgreich zu sein, bedarf es der Innovation und Kreativität, agiler Herangehensweisen und Lösungen in Wirtschaft und Verwaltung.

 

Gerade damit tut man sich in Deutschland schwer. Ob KfW-Innovationsbericht Mittelstand 2015, ZEWBranchenreport Innovation 2015 oder Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI):

  • Die maßgebenden Innovationsbarometer messen einen starken Rückgang der Innovationsaktivität in Deutschland.
  • Die Innovatorenquoten unter kleineren und mittleren Unternehmen, aber auch in traditionell innovationsintensiven Wirtschaftszweigen wie dem Fahrzeugbau oder der Elektroindustrie, sind gesunken – teilweise auf Niveaus, wie wir sie aus den Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 bis 2009 kennen.
  • Der Wertbeitrag der verbleibenden Produkt- und Prozessinnovationen ist rückläufig.
  • Der Blick auf die internationale Konkurrenz lässt keine Zeit zum Ausruhen.

Im EU-Ranking zur Innovationskraft rutschte Deutschland 2014 und 2015 je einen Platz ab und belegte zuletzt Rang 4 hinter Schweden, Dänemark und Finnland. Im aktuellen IMD World Competitiveness-Ranking fiel Deutschland gegenüber einem starken Abschluss in 2014 um sechs Plätze auf Rang 12 zurück – weil sich die Werte auch für die Forschungs-, Entwicklungs- und Technologieinfrastruktur kontinuierlich verschlechterten. Im Global Innovation Index schaffte es Deutschland 2015 mit Rang 10 zwar erstmals unter die weltweite Top 10 – allerdings ohne dass sich der Abstand zu den Spitzenreitern Schweiz und Schweden schließen ließ.

 

Auf der Suche nach den Ursachen für diese Entwicklung reicht es nicht, die Innovationsstrategie der Bundesregierung zu kritisieren – auch wenn die sich laut Meinung der Experten zu einseitig auf technologische Innovation mit starkem Fokus auf Digitalisierung der Produktion konzentriert und viele Digitalisierungschancen im sozialen Sektor, im Dienstleistungssektor, in der öffentlichen Verwaltung sowie in anderen Zukunftstechniken ungenutzt lässt.

 

Wir müssen tiefschürfendere Fragen stellen.

 

Was wünschen sich arbeitende Menschen hinsichtlich innovationsförderlicher Arbeitswelten?
Innovations- und Motivationsforschung weisen klar auf den innovationsfördernden Wert partizipativer, freiraumgebender Arbeits(platz)-Designs hin: von den ersten sozialwissenschaftlichen Experimenten an der Universität Michigan im frühen 20. Jahrhundert zur Bedeutung sozialer Faktoren am Arbeitsplatz (Hawthorne-Effekt) über die Experimente zur teilautonomen Arbeit in den 70er und 80er Jahren bis zur neuen Agilitätsforschung.

 

Gleichwohl erleben wir, dass Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Sozialpartner die Umsetzung freiheitlicher, partizipativer Konzepte zögerlich angehen und den Menschen wenig Eigen- und Mitverantwortung zutrauen, dass sie die Sicherheitsfunktion im System Arbeit vor die kreativ-produktive Funktion stellen, frei nach dem Motto: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Je größer die Unsicherheit und die Unüberschaubarkeit, je schneller, vielschichtiger und komplexer die Welt, desto größer wird die Zahl der Gesetze und Regelwerke – als ein Versuch, Veränderung zu beherrschen. Andere Transformationskompetenzen, die auf Autonomie und die Kreativität des Einzelnen setzen, werden praktisch nicht gestärkt.

Wie viel Freiheit wünschen sich die Arbeitenden für innovatives Verhalten im Job?
Was brauchen Menschen in ihrer Arbeitswelt, damit mehr innovatives Verhalten entsteht? Wie viel Freiheit und Gestaltungsmacht wünscht sich der Einzelne, um schöpferisch produktiver zu sein? Und wo sehen Arbeitende die Möglichkeiten und die Grenzen von Autonomie – die Risiken und Chancen für sich und ihre Organisation?

 

Um diese Fragen zu beantworten und wissenschaftlich fundiert Anforderungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft abzuleiten, initiierten die Projektpartner ZAAG, GfWM und Hays eine empirische Untersuchung, diskutierten die Ergebnisse mit einem renommierten Gremium aus Personal- und Arbeitsmarktexperten und formulierten auf dieser Basis ein Manifest .

 

Dabei ging es nicht um einen Ist-Soll-Vergleich, sondern darum, zu erfahren:

  • was subjektiv als „innovationsförderliche Arbeitswelt“ eingeschätzt wird und
  • was Arbeitende in unterschiedlichen Formen der abhängigen und unabhängigen Beschäftigung in Deutschland für eine kreativere Bewältigung der aktuellen Herausforderungen von Organisationen und Institutionen erwarten.

Ergebnisse im Detail

Es besteht eine starke Assoziation zwischen innovativem Verhalten und Freiheit.
Innovatives Verhalten verbinden die Befragten in allen Dimensionen deutlich stärker mit Begriffen aus dem Spektrum von Freiheit als von Sicherheit. Als Grundlage für innovatives Verhalten in der Arbeit wünschen sie sich mehrheitlich und mit geringen Abstufungen:

  • starke Einflussnahme auf die eigenen Arbeitsbedingungen (selbstbestimmt vs. fremdbestimmt),
  • eine auf Vertrauen basierende Führungskultur (vertrauensbasiert vs. kontrollbasiert),
  • Freiheit, man selbst zu sein (vs. Druck, sich anpassen zu müssen bezüglich Erscheinungsbild, Gewohnheiten, Arbeitsstil usw.),
  • unternehmerische und flexible Organisationsstrukturen (unternehmerisch, flexibel vs. bürokratisch, standardisiert),
  • eine ausgeprägte Experimentierkultur (Lernen aus Fehlern vs. Vermeiden von Fehlern),
  • stärkere Einflussnahme auf Unternehmensentscheidungen (demokratisch vs. hierarchisch).

 

Experimentierkultur und Souveränität rangieren an erster Stelle.
Für mehr innovatives Verhalten erwarten die Befragten von Organisationen allem voran eine entscheidende Stärkung der Experimentierkultur und die Möglichkeit zu mehr Einflussnahme auf den eigenen Arbeitsplatz: Das günstigste Innovationsklima bieten demnach Organisationen, die es ermöglichen, etwas Neues auszuprobieren und Arbeitszeit sowie -ort frei zu wählen.

 

Alter
Überraschend: Die Jüngeren wollen mehr Einfluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen, aber weniger experimentieren als die Älteren. Die bis 39-Jährigen bevorzugen für innovatives Arbeiten Organisationen, die Flexibilität bei der Wahl von Arbeitszeit und -ort bieten. Gegenüber den Älteren haben sie einen stärkeren Bedarf an Einflussnahme auf Unternehmensentscheidungen. Die Generation 40 plus hält alle anderen Organisationsmerkmale für maßgeblicher oder ebenso bedeutsam für innovatives Verhalten.

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Paradox: Die jüngere Generation sucht etwas weniger stark nach Freiheit als die ältere, um sich im Job innovativ zu verhalten. Anders als allgemein erwartet, verbinden die jüngeren Befragten (bis 39 Jahre) innovatives Verhalten in allen Dimensionen weniger (!) stark mit Begriffen der Freiheit als die älteren (über 40 Jahre) – wenngleich insgesamt auf hohem Niveau. Und das, obwohl sie mit Internet und Digitalisierung aufgewachsen und überdurchschnittlich davon überzeugt sind, dass beide die Partizipation stärken und die Herausbildung demokratischerer Unternehmensstrukturen fördern.

 

Berufsabschluss
Arbeitende mit Berufsausbildung stehen Akademikern in ihrem Wunsch nach Freiheit nur wenig nach. Arbeitende mit Studium tendieren in innovativen Umfeldern zwar durchgängig stärker Richtung Freiheit als solche mit Berufsausbildung, insbesondere bei dem Wunsch nach einer Experimentierkultur. Doch ist der Abstand unerwartet gering, speziell was den Wunsch nach Einfluss auf Unternehmensentscheidungen, nach vertrauensbasierter Führung und nach der Freiheit, man selbst zu sein, betrifft.

 

Gleichwohl springen Akademiker bei innovativen Jobs stärker auf Organiationen an, die alle freiheitlichen Merkmale deutlicher ausbilden. Für Arbeitende mit Studium spielen alle Dimensionen (bis auf Einflussnahme auf eigene Arbeitsbedingungen) eine größere Rolle für innovatives Verhalten als für Mitarbeiter mit Berufsausbildung – der stärkste Unterschied zeigt sich in der Dimension Experimentierkultur.

Berufliche Position
Arbeiter verbinden innovatives Verhalten etwas weniger stark mit Freiheit als Angestellte/Beamte und Selbstständige.  Menschen, die sich in der Befragung als „Arbeiter“ kategorisierten, verbinden innovatives Verhalten in allen Dimensionen weniger stark mit Freiheit als Angestellte/ Beamte und Selbstständige. Am deutlichsten zeigen sich die Unterschiede in den Dimensionen Einflussnahme aufeigene Arbeitsbedingungen, Führungskultur, Anpassungsdruck und Einflussnahme auf  Unternehmensentscheidungen.

Arbeiter wollen für innovative Aufgaben mehr Einfluss auf die eigenen Arbeitsbedingungen – von Strukturmaßnahmen erwarten sie sich deutlich weniger. Selbstständige bevorzugen für innovatives Verhalten Arbeitsumfelder, in denen sie sich persönlich wenig anpassen müssen und möglichst viel Einfluss auf ihre eigenen  Arbeitsbedingungen haben. Auch Angestellte und Beamte legen darauf großen Wert; für sie ist es zudem wichtig, dass der durch die Organisation vorgegebene Rahmen (experimenteller Freiraum, vertrauensbasierte Führung und Teilhabe) stimmt. Arbeiter hingegen unterscheiden sich in ihren Organisationsprofil- Präferenzen bei allen Merkmalen erheblich von Angestellten, Beamten und Selbstständigen.

Unternehmensgröße
Die Unternehmensgröße hat keinen großen Einfluss auf den Ruf nach Freiheit. Mitarbeiter kleinerer Unternehmen wollen aber mehr Einfluss auf Unternehmensentscheidungen. Mitarbeiter kleinerer Unternehmen (bis 499 Mitarbeiter) und größerer Unternehmen (ab 500 Mitarbeitern) verbinden innovatives Arbeiten ähnlich stark mit freiheitlichen Begriffen und Strukturen. Insbesondere kleinere Unternehmen fördern ihre innovativen Köpfe, wenn sie diesen neben einer guten Experimentierkultur ein hohes Maß an Einfluss auf Unternehmensentscheidungen bieten. Größere Unternehmen überzeugen eher, indem sie das Experimentieren fördern und innovativ Schaffenden ermöglichen, Arbeitszeit und -ort frei zu wählen.

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Geschlecht
Männer und Frauen verbinden innovatives Arbeiten annähernd gleich mit freiheitlichen Begriffen. Beide Geschlechter tendieren fast unterschiedslos zu mehr Freiheit, wenn innovatives Verhalten im Job gefragt ist. Männer bevorzugen etwas stärker als Frauen unternehmerisch, flexible Strukturen, Frauen bevorzugen etwas stärker als Männer, dass Unternehmensentscheidungen demokratisch getroffen werden.

 

Frauen bevorzugen deutlich Organisationen, die flexible Arbeitsbedingungen bieten. Organisationen, die Arbeitszeit und -ort flexibilisieren, stehen bei den weiblichen „Innovationsarbeitern“ deutlich höher im Kurs – während Männer für innovatives Arbeiten ein Umfeld mit einer guten Experimentierkultur bevorzugen.

 

Manifest für innovative und zukunftsfähige Arbeitswelten – sieben Thesen

1. Freiheit in der Arbeit stärken
Arbeitende wollen für Innovation Freiheit in ihrer Arbeitswelt. Es braucht viel mehr neue Gestaltungsfreiräume sowie weniger Kontrolle und Innovationsbarrieren durch die Führung.

2. Experimentierkulturen forcieren
Neben dem Abarbeiten heute noch nötiger Arbeitsroutinen braucht es Spiel- und Freiräume für kreatives Erproben, Prototypen, Designen und iterative Kommerzialisierung – für Intrapreneure wie Entrepreneure.

3. Entscheidungsprozesse für direkte Demokratie öffnen
Arbeitende wollen mehr Bereiche und Formen direkter Teilhabe an Unternehmensentscheidungen – auch in komplexen und kritischen Situationen. Wichtige Voraussetzung dafür ist volle Transparenz für alle Beteiligten.

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4. Überholte Führungsmodelle ersetzen
Wir brauchen demokratischere Formen der Führung, die Führung zeitlich begrenzen und den Geführten Wahl- und Vetorechte bei der (wiederkehrenden) Besetzung von Führungspositionen einräumen.

5. Freiheits- und Partizipationsrechte auch vertraglich verankern
Der Wandel vom abhängig Beschäftigten zum Bürger (auch in der Wirtschaft) geht einher mit dem Wandel von Arbeitgeber- und -nehmerverhältnissen zu Leistungs- und Innovationspartnerschaften, die diese neue Rolle und Sinngebung auch in den Vertragsformen beinhalten – beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung oder auf diskriminierungsfreie Auswahl und Förderverfahren.

6. Hierarchiearme, vertrauensbasierte Netzwerkstrukturen fördern
Wir brauchen hierarchiearme Formen partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum Wohle von Mitarbeitern, Kunden, Eigentümer und weiterer Stakeholder: Kompetenzen und Ressourcen von Menschen wie Organisationen entwickeln sich immer stärker zu agilen Wertschöpfungsnetzwerken und müssen systematisch unterstützt werden.

7. Jede Form von Arbeit wertschätzen – es gibt keine atypische Arbeit
Wir brauchen ein umfassendes Verständnis von Arbeit: Es gilt, ausnahmslos alle Formen der Arbeit unter Einhaltung von Mindeststandards wertzuschätzen. Der Begriff „atypische“ Beschäftigung ist diskriminierend. Innovationsarbeit, Produktionsarbeit, abhängige Beschäftigung, Zeitarbeit, Freiberuflichkeit, (Solo-)Unternehmertum und ziviles Engagement sind Arbeit.

 

Mehr Details zur Studie finden Sie hier.

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