Europa wird den globalen Kampf ums technische Wissen verlieren
Mit der Globalisierung sind nicht nur Wirtschaftsräume, sondern auch Bildungssysteme in Konkurrenz getreten. Nicht alle Länder nutzen Migration als Mittel, sich besser für die Zukunft zu rüsten. Am besten steht Ostasien da.
Die Menschenrechtler reagieren jedoch nicht nur mit Empörung, sondern verstehen die Ostasiaten einfach nicht. Schliesslich lässt sich leicht errechnen, dass aufgrund der minimalen Anzahl Kinder (zwischen 0,8 pro Frau in Singapur und 1,6 pro Frau in China) bis 2030 rund 280 Millionen Einwanderer benötigt werden, wenn die Vergreisung der Gesellschaft gestoppt werden soll. Die Hälfte könnte allein Südasien heute schon auf einen Schlag bereitstellen – doch Einladungen bleiben aus.
Enorme Differenzen
Handeln die Ostasiaten gegen die eigenen Interessen? Sind sie fremdenfeindlich oder gar rassistisch? Doch wie lassen sich solche Vorhaltungen damit vereinbaren, dass etwa Hongkong (7,4 Millionen Einwohner) und Singapur (5,8 Millionen) mit 39 bzw. 43 Prozent extrem hohe Werte an im Ausland geborener Bevölkerung aufweisen, wogegen Deutschland im Vergleich mit 15 Prozent ausgesprochen bescheiden anmutet? Nichtsdestoweniger betrachten 85 Prozent der Deutschen Zuwanderer und deren Integration als grösstes Problem des Landes. Verfügt die Zuwanderungspolitik der beiden asiatischen Stadtstaaten über einen Beruhigungsfaktor, der hierzulande fehlt? In der Tat: Einen solchen gibt es nicht nur, er lässt sich sogar quantifizieren.
Unter 1000 zehnjährigen Schülern erreichten bei Trends in International Mathematics and Science Study (Timss) 2015 in Hongkong 450 und in Singapur sogar 500 die höchste mathematische Leistungsstufe. In Gesamt-Ostasien liegen die Japaner mit 320 Assen unter 1000 Schülern am Schluss. Erst im globalen Vergleich zeigt sich die Aussagekraft dieser Werte. So hat Frankreich unter 1000 Kindern lediglich 20 solcher Könner. Deutschland steht mit 53 auf 1000 etwas besser da.
Aus diesen enormen Differenzen lassen sich, wenn man auf den Faktor Bildung fokussiert, die Einwanderungsregeln Ostasiens herleiten. Da alle übrigen Länder der Welt unter ihrer Eigenkompetenz rangieren, ist der Rekrutierungspool extrem eingeschränkt. Würde man Einwanderer aus unteren Rängen akzeptieren, triebe das den eigenen Leistungsdurchschnitt nach unten. Nur die Allerbesten aus schlechter abschneidenden Nationen kämen infrage.
Wer ökonomisch an der Weltspitze bleiben will, darf einen Hochqualifizierten nicht aufgrund seiner Hautfarbe zurückweisen.
So lag der Mathematik-Durchschnitt der besten 10 Prozent der Achtklässler in Libanon 2015 bei 539 Timss-Punkten, während in Singapur schon der Gesamtdurchschnitt mit 621 Punkten (Libanon: 442) weit höher war und die obersten 10 Prozent sogar 715 Punkte erreichten. Obwohl es sich bei Libanon um eine der tüchtigsten arabischen Nationen handelt, würde man sich bei einer Öffnung der Tore stark verschlechtern. Man lernt dabei auch vom Blick auf Deutschland, wo die Zahl der Ausländer, die von Sozialhilfe leben, von 130 000 im Jahr 2010 auf 979 000 im Jahr 2015 hochschnellte und 41,5 bis 78,1 Prozent der Zuzüger aus dem arabischen Raum vom Staat bzw. vom Steuerzahler finanziert werden müssen.
Wer Schularbeiten macht, überwindet Grenzen
Ostasiaten also können ihre Lage nur dadurch nicht verschlechtern, indem sie ostasiatische Migranten aufnehmen. Deshalb gibt es in Hongkong, Singapur, Südkorea und Japan 4,15 Millionen chinesische Einwanderer. Die angelsächsischen Länder (Australien, Neuseeland, Kanada, Grossbritannien und USA) folgen mit 3,3 Millionen. Deutschland begnügt sich mit 100 000 Chinesen.
Rassismus also verrät die Bevorzugung «seinesgleichen» keineswegs. Was den Ausschlag gibt, ist die Kompetenz der im Übrigen durchaus ungeliebten Nachbarn. Wer ökonomisch an der Weltspitze bleiben will, darf einen Hochqualifizierten nicht aufgrund seiner Hautpigmentierung zurückweisen. Das wäre nicht nur moralisch verwerflich, sondern ein Schaden für das Land. Würde ein Schulabbrecher hereingelassen, weil seine Haare oder seine Religion gefielen, wäre der Nachteil gross. Wer seine Schularbeiten macht, überwindet Grenzen. Wer sich dagegen um sie herumdrückt, kann sich nicht auf Diskriminierung herausreden.
Selbstredend leidet China unter dem Braindrain zur ostasiatischen und zur angloamerikanischen Konkurrenz. Bei einem Durchschnittsalter von 37 Jahren (Südkorea: 41, Japan und Deutschland: 47) bleibt jedoch Zeit zur Aufholjagd. Dabei sollen die Besten im Lande gehalten oder Weggänger zurückgelockt werden können.
Dies vollzieht sich mit einer Rasanz, die sogar die früheren Höhenflüge der Nachbarn verblassen lässt. Deutlich mehr als die Hälfte aller Smartphones werden heute in China hergestellt. 2016 wurden dort fünfzigmal mehr mobile Bezahlungen abgewickelt als in den USA. In Peking strecken selbst Bettler Passanten ihr Payphone hin, und Grosszügige ziehen im Vorbeihasten das ihre für den Transfer eines kleinen Betrags darüber.
Solch technologischer Vorsprung erwächst der Umsetzung von Kompetenz in künstliche Intelligenz. In Financial Technology (Fintech) schaffte es 2014 nur eine chinesische Firma unter die besten fünfzig. Bereits 2016 stammten die vier innovativsten Unternehmen aus dem Reich der Mitte. Bei der 2017 durchgeführten Image-Net-Competition, einer Olympiade für Bilderkennung, waren 50 Prozent der Teilnehmer und die Sieger in allen Unterdisziplinen Chinesen.
Während noch vor kurzem China als der ewige Nachahmer galt, fragt sich jetzt, ob das Silicon Valley den «Rückstand wieder aufholen kann».
Bei Deep Learning, bei dem es um die Denkfähigkeit von Maschinen geht, überflügelte China die USA bereits 2014. Die Regierung Obama startete die Gegenoffensive erst im Oktober 2016. Xi Jinping antwortete im Januar 2017 mit dem Aufbau eines National Laboratory for Brain-like Artificial Intelligence Technology in der 5-Millionen-Stadt Hefei. Andrew Ng, der Chef-Wissenschafter von Baidu, begleitet den Kampf um diese Killertechnologie mit der Feststellung, dass man in China bereits heute deutlich schneller arbeite als im Silicon Valley.
Weil das so ist, errichtet Apple für 500 Millionen Dollar zwei Forschungszentren an chinesischen Eliteuniversitäten in Peking und Suzhou. Dies unterstreicht, dass die USA mit ihrem eigenen Nachwuchs kaum noch mithalten können, ein (unter Trump mittlerweile illusionär gewordenes) Umsteuern der Einwanderungspolitik also viel zu spät kommt. Während noch vor kurzem China als der ewige Nachahmer galt, fragt sich jetzt sogar der «Economist», ob das Silicon Valley den «Rückstand wieder aufholen kann».
Auf- und Abwärtstrends
Immerhin hat Amerika unter 1000 Zehnjährigen noch 140 Mathe-Asse, gegenüber 53 in Deutschland. Chinas Wert ist zwar unbekannt, sollte aber nicht allzu weit unter jenem von 350 der Verwandten in Taiwan liegen. Dazu schlägt die wuchtige Differenz zwischen 22 Millionen Amerikanern und 130 Millionen Chinesen im «Innovationsalter» von 25 bis 30 Jahren zu Buche. Gegenüber Deutschland allerdings bleiben die USA konkurrenzfähig.
Das liegt vor allem daran, dass die aschkenasischen, indischen und auch ostasiatischen Überflieger vorrangig immer noch das «land of the free» bevorzugen. Dazu gehören die «Spitzeningenieure», von denen Googles Personalchef Bock weiss, dass sie dreihundertmal so wertvoll sind wie «Standardingenieure». Solche Genies wandern nicht nach Deutschland ab. Dafür ist von den Millionen Neuankömmlingen aus der Dritten Welt immer noch nur jeder Siebte auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar.
Wenn man Weltmarktführerschaft daran erkennt, dass Spitzenreiter und Hauptverfolger aus demselben Land kommen (bei Kameras etwa Nikon und Canon in Japan), dann schafft China diesen Sprung noch vor seinen Siegen bei zivilen Drohnen (DJI aus Shenzhen und Yuneec aus Jinxi). 2017 will man aus einheimischen Komponenten den ersten Exascale-Computer überhaupt fertigstellen, der pro Sekunde 10 hoch 18 (eine Zahl mit 18 Nullen) Operationen ausführt. Unter den Fortune Global 500 von 2017 halten Chinesen 115 Positionen (nach 9 im Jahr 1997), darunter die Plätze 2, 3 und 4. Singapur verzeichnet einen Anstieg von null auf drei Weltfirmen, Taiwan einen von einer auf sechs. Japan fällt kräftig zurück, Südkorea hält sich.
Deutschland verschlechtert sich von 47 auf 29 Unternehmen. Die prozentual mit viel mehr, aber auch viel besser qualifizierten Migranten gesegnete Schweiz schlägt sich mit einem Rückgang von 20 auf 14 ungleich besser. Deutschlands Abstieg korreliert bei der globalen Wettbewerbsfähigkeit mit dem Wechsel von Platz 6 auf Platz 13 zwischen 2012 und 2016. Bei der erstmals gemessenen digitalen Kompetenz reicht es global sogar nur für Platz 17. Parallel dazu fallen die Viertklässler bei Timss vom 12. Platz im Jahr 2007 auf den 24. Platz im Jahr 2015 (nach dem 16. Platz im Jahr 2011).
Die Züge fahren ab
In Ostasien mögen die Plätze wechseln, der Aufwärtstrend jedoch setzt sich fort. Zuerst sind es die Japaner, die innovieren, dann die Südkoreaner, die beim Tempo zulegen, bis schliesslich die Chinesen die Branche dominieren.
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