Fachkräftemangel und Demografiewandel: Worthülsen befeuern Diskussionen über Arbeitsmarktpolitik
Von Gerhard Kenk, Crosswater Job Guide.
Alle Alarmglocken müssen läuten, wenn in den Medien Formulierungen wie „Angesichts des Fachkräftemangels und des Demografiewandels“ auftauchen. Was oft folgt, ist eine gnadenlose Verstärkung des aktuellen medialen Hypes gekoppelt mit einer fehlenden Begründungen und Nachweisen, weshalb das so ist. An dem Mythos Fachkräftemangel hat Personal-Experte und Buchautor Martin Gaedt stark gerüttelt und die Widersprüche zwischen Hype und Realität aufgedeckt. Doch wie sieht es aus mit dem zweiten Mantra, dem Demografiewandel? Könnte der Recruiting-Ansatz von Google und der Lake Wobegon-Effekt eine Alternative sein?
In seinem brillanten Buch „Mythos Fachkräftemangel“ hat Gaedt die „Fratze Fachkräftemangel“ demaskiert und in überzeugenden Einzeldarstellungen die Realität der gegenwärtigen Recruiting-Praxis seziert. Dies hat zu einem gewissen Umdenken geführt, so hat Simone Janson in ihrem Blog „Berufebilder“ die Arbeitsmarktlage der Ingenieure entlarvt: Fachkräftemangel – Ingenieure machen gegen ihren eigenen Verband mobil: Wir sind VDI. Es hat nicht lange gedauert bis die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit kritisch-differenzierten Sendungen nachgezogen haben.
Ein anderer Hype beherrscht immer noch die einschlägigen Medien, Redaktionsstuben und Pressemitteilungen: Der Demografiewandel. Gelegentlich wird an diesem Mythos Demografiewandel gerüttelt, ob es ein Mantra, ein Mythos oder gar Realität ist, bleibt zunächst unklar.
Die Demokalypse bleibt aus
Guido Mingels packt im SPIEGEL 15/2015 dieses heiße Thema an und konstatiert „Die Demokalypse bleibt aus“. Seit mehr als hundert Jahren fürchtet sich Deutschland vor dem demografischen Wandel und beschwört seinen eigenen Untergang.
Wer ist schuld am Fachkräftemangel? Die Demografie! Wer sorgt für Geburtennotstand? Die Demografie! Wer verantwortet die Versorgungslücke, den drohenden Rentenkollaps? Die Demografie, die Demografie! Wer dämpft das künftige Wirtschaftswachstum? Die Demografie! Wer entvölkert die Provinz? Die Demografie! Wer macht das Land zur Greisenrepublik, lässt die Gesundheitskosten explodieren? Die Demografie, die Demografie!
So beginnt Mingels seine Widerrede und rüttelt an den Klischees, die an den Stammtischen landauf landab mit Innbrunst diskutiert werden. Es fehlt noch die letzte Frage: Wer trägt die politische Verantwortung für den Demografwandel und seit wann hat der zuständige Minister davon gewusst?
Auszüge aus Mingels Widerrede:
Mythos #1: Deutschland stirbt aus
Der Berliner Historiker Thomas Bryant hat den deutschen Demografie-Diskurs seit Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Diskussion um die deutsche Bevölkerungsentwicklung stets durch eine „außergewöhnliche Dramatisierung“ und „apokalyptische Untergangsängste“ gekennzeichnet war.
Mythos #2: Wenige Kinder, viele Alte – ein Rezept für den Untergang!
Demografischer Wandel bedeutet, auf die einfachste Formel gebracht: weniger Kinder, mehr Alte. Korrekt wäre: weniger Kinder, längeres Leben.
Weniger Kinder, langes Leben: Das ist nicht mehr und nicht weniger als das Erfolgsmerkmal reicher, hoch entwickelter Gesellschaften, eine ebenso erstrebenswerte wie weitgehend unvermeidliche Folge anhaltenden Wohlstands. Das Gegenteil, – viele Kinder, kurzes Leben – charakterisiert stets schwach entwickelte Volkswirtschaften.
Weniger Kinder, langes Leben: Das ist der Zustand – um es mit dem gebührenden Pathos zu sagen -, den das Menschengeschlecht in allen Ländern der Erde erstrebt. Dabei gibt es diese Art des Daseins menschheitsgeschichtlich betrachtet erst seit kurzer Zeit. Für den allergrößten Teil seiner Geschichte, nämlich etwa 200 000 Jahre lang, musste der Homo sapiens froh sein, wenn er es bis 40 schaffte.
Mythos #3: Die Pyramide zeigt die ideale Bevölkerungsstruktur
Was als Grabstätte für ägyptische Könige geeignet sein mag, ist als Abbild einer Bevölkerungsstruktur in Wahrheit alles andere als wünschenswert.
Die deutsche Bevölkerungsstruktur gleicht heute einem zerzausten Weihnachtsbaum. Der deutsche Weihnachtsbaum wird in den folgenden Jahrzehnten zunehmend wackliger aussehen, weil die Babyboomer den Schwerpunkt nach oben treiben und dabei die Sozialsysteme stark belasten. Das wird ohne Frage eine schwierige Zeit. Aber es ist keine Endzeit. Es geht um etwa drei Dekaden, 2020 bis 2050, die die größten Herausforderungen mit sich bringen. Dann jedoch, also schon zur Mitte des Jahrhunderts, wenn die Babyboomer nicht mehr leben, sieht alles viel freundlicher aus.
Mythos #4: Es gibt immer mehr Alte
Die Grenze, die seit langer Zeit zwischen Alt und Jung, also zwischen abhängigen und produktiven Bürgern gezogen wird, liegt bei 65 Jahren. Wer älter ist, liegt der Gesellschaft auf dem Säckel, wer jünger ist, zahlt in denselben ein.
Und es folgen Zahlenspiele, welche die Demokalyptiker so leidenschaftlich gern vortragen: Im Jahr 2030, raunen sie, müssen 100 Personen im Erwerbsalter demnach schon 53 Pensionäre unterstützen! Im Jahre 2060 wären es 67!
Es ist wichtig, sich das klarzumachen: Die meisten von uns werden sehr lange leben. Wir haben für alles mehr Zeit. Wir kriegen später Kinder. Wir belieben länger jung. Wir werden im Idealfall weniger Stunden pro Woche arbeiten, aber verteilt auf mehr Jahre. Wir werden später sterben. Ist das nicht großartig?
Mythos #5: Mehr Alte heißt mehr Gebrechliche
Wir haben noch kein Verständnis entwickelt vom langen und guten Leben. Wir glauben, dass sich mit steigender Lebenserwartung auch das Siechtum verlängert. Das stimmt aber nicht. Nächste frohe Botschaft: Wir leben nicht nur länger, wir bleiben auch länger fit. Der körperliche Verfall dauert nicht etwa länger, er beginnt bloß später, nicht zuletzt wegen medizinischer Fortschritte.
Auch viele Gesundheitskosten werden vor allem aufgeschoben, nicht aufgeblasen. Ein übergroßer Teil davon fällt im letzten Jahr vor dem Tod an – egal in welchem Alter er stattfindet.
Warum sehen so viele trotzdem so schwarz? Weil die Debatte unter einem systematischen Denkfehler leidet, den der Demografie-Björn Schwentker als „Ceteris-Paribus-Logik“ bezeichnet hat. Ceteris paribus, „unter sonst gleichen Umständen“, ist eine Formel, die bei wissenschaftlichen Experimenten verwendet wird und die dafür steht, dass sich nur eine Variable verändert während alles andere gleich bleibt. Wir projizieren einen isolierten Ausschnitt der Gegenwart in die Zukunft, ohne zu bedenken, dass in der Zukunft das gesamte Bild ein anderes sein wird. Wer nur daran denkt, dass wir immer länger leben, aber nicht realisiert, dass wir auch immer länger gesund bleiben, wird verzweifeln.
Das ist das Denkmuster, das im drohenden Halbsatz „Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ….“ zum Ausdruck kommt. Es ist das Mantra aller Pessimisten. Die Menschheit hat aber noch nie einfach so weitergemacht wie bisher. Sonst wäre sie längst untergegangen.
Mythos #8: Deutschland ist kein Einwanderungsland
Deutschland war mal mehr Einwanderungsland, mal mehr Auswanderungsland, meistens beides, und das schon immer.
Der deutsche Wanderungssaldo liegt im langfristigen Mittel seit 1951 bei plus 170.000 – das sind, gemessen an der heutigen Bevölkerungsgröße, pro Jahr nicht mehr als 2 Zuwanderer pro 1000 Einwohner. Richtig ist, dass Deutschland in den vergangenen Jahren als Ziel für Migranten an Beliebtheit gewonnen hat – zum Glück. Im Gesamtbild allerdings ist die Zuwanderung sehr moderat und wird chronisch überschätzt.
Sind die Demokalyptiker nach hundert Jahren des erfolglosen Abgesangs müde geworden? Keineswegs, sie warnen und drohen munter weiter.
Eine weitere Deutung hat der Hamburger Demografie-Fachmann Björn Schwentker vorgeschlagen. Seiner Einschätzung nach sind demografische Horrorprognosen vor allem dies: Ausreden und Ablenkungsmanöver. Er sagt: „Es ist nicht wahr, dass der demografische Wandel ein Problem ist. Aber alle möglichen Probleme werden fahrlässig demografisiert“. Sehr oft werden dabei die wahren Ursachen verschleiert. Nicht die Demografie mit ihren niedrigen Geburtenziffern ist „schuld“ am Fachkräftemangel, sondern, zum Beispiel: die Bildungspolitik. Nicht die Demografie mit ihrer steigenden Lebenserwartung ist schuld am vermeintlich ungesunden Altenquotient, sondern, unter anderem: die Rentenpolitik. Die Demografie ist gemäß Schwentker, eine Messlatte dafür, wie sehr sich die Menschheit entwickelt – und wie sehr sich die Gesellschaft diesem Wandelt durch Entwicklung anzupassen hat“. Wer dagegen in der Demografie selbst das Problem sucht, muss auch das Thermometer verantwortlich machen für das schlechte Wetter.
Die Alterspyramide: Quantitatives Kästchendenken
Wenn Arbeitsmarktdiskussionen mit Alterspyramiden unterfüttert werden, erscheint dies gelegentlich wie das Konzept der Mal-Kunst „Malen nach Zahlen“. Die Strichmännchen-Darstellung in Pyramiden-, Birnen- oder Apfelformen könnte oberflächlicher nicht sein. Verdrängt werden jegliche Qualitätsmerkmale der Zusammensetzung der Erwerbstätigung oder – noch gravierender – die Interdependenzen von Arbeitsmarkt- und -Bildungspolitik. Egal wie breit oder schmal ein bestimmtes Bevölkerungssegment in der jeweiligen Altersbandbreite ist, es kommt bei den Erwerbstätigen auf die qualitative Zusammensetzung an. Wie hoch ist der Anteil an Hauptschulabgängern, Abiturienten oder Absolventen wissenschaftlicher Studiengänge? Wie setzt sich der Anteil der Erwerbstätigen zusammen, die arbeitslos, Sozialhilfeempfänger oder Minijobber sind, in zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen sind oder gar unbefristete Arbeitsverträge haben?
Längst hat sich am Arbeitsmarkt ein schleichender Prozess, ein Trend zum Prekariat, etabliert. Nach Professor Guy Standing („Prekariat“) sind weltweit etwa 25% der erwerbstätigen Bevölkerung dem Prekariat zuzurechnen – Tendenz steigend. Aus der Darstellung von Alterspyramiden erschließen sich solche wichtigen Zusammenhänge überhaupt nicht.
Gegenentwurf: Die „Lake Wobegon“ Strategie von Google
Google hat sich nicht nur als Innovationszentrum des Internets etabliert, auch die von Google praktizierten Recruiting-Verfahren sind legendär. Da wird schon gelegentlich über die berühmt-berüchtigten Fragen im Job-Interview berichtet („Wie schwer ist Manhattan?“). Jedoch wird ein anderes Recruiting-Verfahren höchstens unter Insidern diskutiert: Die Lake-Wobegon-Strategie.
Lake Wobegon ist ein fiktiver Ort, der von dem amerikanischen Schriftsteller und Radiomoderator Garrison Keillor erfunden wurde. In der idealisierten Welt des Dorfs Lake Wobegon sind „alle Frauen stark, alle Männer gutaussehend und alle Kinder überdurchschnittlich“ sind. In der Psychologie wird der Lake-Wobegon-Effekt als Tatsache beschrieben, dass die Mehrheit der Menschen bestimmte eigene Fähigkeiten für überdurchschnittlich hält.
In der Personalbeschaffungspolitik des Internet-Konzerns Google hat sich ein ähnliches, wenn auch modifiziertes Konzept durchgesetzt: „Wir stellen nur Bewerber ein, die über dem Durchschnitt unserer derzeitigen Mitarbeiter liegen“. Konsequenterweise führt diese Recruitierungspolitik zu einer mittelfristigen Verbesserung der durchschnittlichen Mitarbeiterqualifikation – ein positiver Lake-Wobegon-Effekt.
Steven Levy, Author von „In the Plex – How Google thinks, works, and shapes our Lives“ (Simon & Schuster, 2011), fasst dieses Recruitingverfahren so zusammen: „When we hire people, we grade the way they answer each question on a 4.0 basis, and if the average scores are below 3.0, we don’t hire them“.
Und so schließt sich der Kreis: Beim Thema Fachkräftemangel kommt es nicht auf die Anzahl der Bewerber, sondern auf deren Qualität an. Und trifft das gleiche Prinzip nicht nur auf Googles Recruiting, sondern auch auf die Demografie, insbesondere die Migration, zu?
Die Ökonomisierung des Regierungshandelns
Einen Blick in die Vergangenheit und die Entwicklung zur „Ökonomisierung des Regierungshandelns“ wirft Joseph Vogl in seinem wegweisenden Buch „Der Souveränitätseffekt“ (Zürich / Berlin 2015). Vogl ist ein deutscher Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler und Philosoph. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur: Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Vogl fasst die Eckpunkte der Entwicklung so zusammen:
„Seit dem achtzehnten Jahrhundert jedenfalls wird die Entwicklungslinie ökonomischen Regierens durch eine Zieländerung politischer Steuerung vorgegeben, die nicht auf Unterdrückung und Beschränkung, sondern vor allem auf die Stimulation von Reichtümern und Produktion ausgerichtet ist.
Diese neue – politökonomische – Technologie lässt sich als Reaktion auf Anwachsen der Bevölkerung und der Produktionsapparate begreifen und folgt der Notwendigkeit, die Akkumulation von Kapital und die Akkumulation von Menschen mit Blick auf die Vermehrung staatlicher Macht zu koordinieren. Es werden darin Marktmechanismen wirksam, die nicht mehr wie die feudalen über Beraubung und Abschöpfung von Diensten und Gütern funktionieren. Sie beruhen im Gegenteil auf einer generellen Wertschöpfung, deren Ziel es ist, mit der Regulierung von Massenphänomenen zugleich eine Verwaltung, eine Sicherung, eine Entwicklung und Steuerung des Lebens zu garantieren: ‚diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten‘ [Michel Foucault]. “
Population als Reichtumsfaktor
Vogl zieht die Verbindung zwischen dem Merkantilismus und der heutigen Zeit ganz deutlich:
„Schon der Merkantilismus des siebzehnten Jahrhunderts hatte den Reichtum nicht allein in der Anhäufung von Bodenschätzen und Handelserträgen, sondern insbesondere in der Bevölkerung, in einem Überfluss und Reichtum an Menschen, d.h. an Arbeitskräften und Steuerpflichtigen, lokalisiert; und spätestens im achtzehnten Jahrhundert galt es als Grundsatz jeder politischen Ökonomie, dass der einzige und grundlegende Reichtum in den Populationen liegt: Die Menschen sind der größte, der wesentlichste Reichtum eines Staates.
In der etwas sperrigen, aber präzisen Sprache des Wissenschaftlers fasst Vogl die Situation so zusammen:
„Ganz konsequent hat man darum volkssouveräne Regungen wie bei den Griechenlandwahlen 2015 sogleich als illegitimen Aufruhr gegen die Dominanz des Finanzsouveräns verbucht. Abhängigkeiten dieser Art haben nicht nur in Krisen und Ausnahmefällen zur Durchsetzung der notorischen Austeritätsprogramme mit Haushaltskürzungen, mit einem Abbau der Sozialleistungen, mit Eingriffen in die Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik geführt. Mit dem gegenwärtigen Finanzregime sind vielmehr neue Formen sozialer Kontrolle und eine Aufkündigung jener sozialstaatlichen Kompromisse verknüpft, die den Kapitalismus der Nachkriegszeit moderierten. Schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts wird nach der Durchsetzung jener Rahmenbedingungen gefragt, unter denen die Gesetze des Marktes und der Kapitalwirtschaft mit denen der Reproduktion der Gesellschaft harmonieren können.
Die Unternehmensform fungiert nicht als Institution zur Verwandlung von Leben in Wert, sondern als Modell für die Regelung und Ausrichtung sozialer Beziehungen. Andererseits wird das damit aktivierte ‚Human‘ oder ‚Sozialkapital‘ in den Wertschöpfungsprozess der Finanzmärkte integriert. Neben der sogenannten Flexibilisierung von Lohnarbeit und der restriktiven Verwaltung von Beschäftigungslosigkeit und Armut hat die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme Versicherungslasten entsolidarisiert, Risikoprofile individualisiert und das Leben der Leute selbst auf die Konjunkturen der Finanzmärkte verpflichtet. Dabei werden Geld- und Renteneinkommen redistributiert; finanzdefinierte Alters- und Gesundheitsvorsorge macht selbst Lohnabhängige zu Mitspielern der Finanzindustrie. Man kann darin die jüngste Prägung einer Regierungsmacht erkennen, die Daseinsvorsorge und Altersrenten, Spareinlagen und medizinische Versorgung, Ausbildung und Beschäftigungsbiographien an die Risikolagen des Finanzsystems bindet.
Das Finanzregime der letzten Jahrzehnte hat damit nicht nur zur größten Kapitalakkumulation in wenigen privaten Händen geführt, es hat nicht nur eine schlagkräftige Oligarchie hervorgebracht, die die Politik einer radikalen Reichtumsverteidigung mit formal demokratischen Mitteln betreibt.“
Starke Worte. Ist nun der permanente Hinweis auf den Demografiewandel in der öffentlichen Diskussion nur eine Scharade um eine rein quantitative Betrachtung der Bevölkerungszahlen – ungeachtet der qualitativen Struktur in Bezug auf Bildungsstand, Fachkräftestruktur, Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen?
Je nach persönlicher Sichtweise zirkulieren in den Medien knackige Statements, wie denn Deutschland zu retten sei oder der Wohlstand garantiert werden kann.
Das Weltbild – zusammengestellt aus dem Medien-Supermarkt
Eine kleine Auswahl – nach dem Multiple-Choice-Verfahren können Sie, liebe Leser, Ihr eigenes Bild der Lage sich zusammenreimen.
- Es ist nicht wahr, dass der demografische Wandel ein Problem ist. Aber alle möglichen Probleme werden fahrlässig demografisiert“ (Björn Schwentker)
[Ja / Nein ] - Die Politik behauptet gebetsmühlenartig, die Bevölkerungsentwicklung sei überhaupt kein Problem, sondern eine Chance. (Herwig Birg)
[Ja / Nein ] - Bis 2050 müssten 188 Millionen mehr Menschen nach Deutschland ein- als auswandern (=Wanderungssaldo), wenn der Altenquotient konstant bleiben soll. In diesem Fall würde sich die Bevölkerungszahl von 82 Millionen auf 299 Millionen erhöhen.“ (UN-Bericht)
[Ja / Nein ] - Deutschland ist aufgrund des demographischen Wandels auf Einwanderer angewiesen. Wenn sich nichts ändert, erwartet uns eine Zukunft mit weniger Arbeitskräften und mickrigen Wachstumsraten. (Folkerts-Landau)
[Ja / Nein] - Die Digitalisierung und Vernetzung der Produktion – bekannt unter dem Schlagwort Industrie 4.0 – ist entscheidend für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. (Christoph Kilger, EY)
[Ja / Nein] - Deutschlands Wohlstand hängt von der Digitalisierung ab (Clemens Fuest)
[Ja / Nein] - Frauen können die Gewinnerinnen des digitalen Wandels werden, wenn wir es klug anstellen (Andrea Nahles)
[Ja / Nein] - Deutschland kann seine wirtschaftliche Position aufgrund seiner Innovationskraft und Technologieposition weiter stärken. Für sechs von zehn Befragten birgt die Energiewende mit den Themen Smart Grids und Energieeffizienz die größten Standortpotenziale. (Umfrage VDE)
[Ja / Nein] - Deutschland verfügt über starkes Wachstum in Wirtschaftssegmenten mit geringer Berufsqualifikation, darunter Gastronomie und Landwirtschaft, sagt IAB-Professor Brücker. Flüchtlinge mit geringer Berufsausbildung würden sich deshalb gute Chancen auf einen Job in Deutschland ausrechnen.(Süddeutsche Zeitung / Brücker)
[Ja / Nein] - Die meisten der Flüchtlinge sind nicht gut genug für den deutschen Arbeitsmarkt qualifiziert. (Münchner Ifo-Institut)
[Ja / Nein] - Der Abgas-Skandal bei Volkswagen hat nach Ansicht von Deutschlands Topmanagern negative Folgen für die gesamte deutsche Wirtschaft und den Standort Deutschland. (WELT)
[Ja / Nein]
Diese Aufzählung könnte nahezu unendlich lang fortgesetzt werden. Sie zeigt die Heißluft-Strategie der Hype-Medien – viele Worthülsen, viel Empörungspotential, wenig Erklärungen und Beweise. Bestenfalls Meinungen, die in Umfragen erhoben werden und bei stetiger Wiederholung einfach zum Fakt befördert werden.
Weiterführende Informationen und Links
Fachkräftemangel: missbräuchliche Nutzung des Begriffes
Fachkräftemangel: methodische Fehler
NDR – Arbeitsmarkt für Akademiker – Die Realität (30 Minuten)
Wirtschaftswoche – Der so genannte Fachkräftemangel
Focus – Das Märchen vom Fachkräftemangel
WELT – Fachkräftemangel? Das Problem ist die Bezahlung
Birg, Herwig: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. LIT, Berlin 2014
Gaedt, Martin: Mythos Fachkräftemangel. Was auf Deutschlands Arbeitsmarkt gewaltig schiefläuft. Wiley, Weinheim 2014
Levy, Steven: In the Plex – How Google Thinks, Works, and Shapes our Lives. Simon & Schuster, New York 2011.
Standing, Guy: The Precariat – The new dangerous Class. Bloomsbury, London 2011
Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes, Zürich/Berlin 2015