„(K)eine Zukunft für Europa!“
Gedanken eines Volkswirts und Soldaten. Ein Gastbeitrag von Markus Müller.
Ein vereintes Europa, der europäische Gedanke aber vor allem die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit haben Europa zu dem gemacht, was es heute ist. Neben der weltpolitischen Bedeutung Europas stellt die Gesamt-Europäische Wirtschaft einen der größten Wirtschaftsräume und zugleich eine der größten Volkswirtschaften weltweit dar. Um dieses „geeinte Europa“ und die Europäische Union (EU) an sich richtig einordnen zu können, möchte ich dem Leser dieses Essays vorab einen kurzen Abriss der Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte „dieses Europas der Nationen“ geben.
Geschichtlich betrachtet stellt die Europäische Union sowohl eine politisch wie auch wirtschaftlich motivierte innereuropäische Entwicklung der letzten sieben Dekaden dar, die unter anderem aus dem gesellschaftspolitischen Trauma zweier Weltkriege erwachsen ist. Neben der wirtschaftlichen Lösungs-Intention, „wer Handel miteinander treibt, führt keinen Krieg gegeneinander“, kam diesem Teil des Europäischen Gedanken zusätzlich ein massives Konfliktpotenzial zwischen Ost und West zu Gute.
Abkehr vom Morgenthau-Plan
Entgegen dem ursprünglichen Morgenthau-Plan aus 1944, Deutschlands nach Kriegsende in einen reinen Agrarstaat umzuwandeln, konterkarierte der aufkeimende Konflikt zwischen der kommunistischen Weltanschauung im Osten und einer kapitalistisch geprägten Sichtweise im Westen diesen Ursprungsplan vollständig. So kam dem Anfangs kriegszerstörten Europa das unerwartet politische Kalkül der Westmächte zu Gute, dass die Westliche Einflusssphäre auf einen Verteidigungsbeitrag Deutschlands im beginnenden „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West nicht verzichten wollte.
Um einen entsprechenden Beitrag überhaupt leisten zu können, kam der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch überwiegend industriell geprägte) der europäischen Nationalstaaten, darunter insbesondere Deutschlands als neunen „Pufferstreifen“ zwischen den beiden großen Militärbündnissen NATO und Warschauer Pakt, plötzlich eine elementare weltpolitischer Bedeutung bei. Damit war durch diese Forderung nach einer deutschen Beteiligung und „Wiederbewaffnung“ trotz zweier Weltkriegen die Grundlage einer deutschen Wirtschaftsentwicklung über das ursprüngliche Agrarstaatsmodell hinaus und die Rückkehr zu einer politischen Einbindung Deutschlands als späteren Kernstaat der Europäischen Union (EU) geschaffen.
Die Anfänge der eigentlichen Europäischen Union, der späteren EU, gehen dabei auf die europäische Annäherung in den 1950er Jahren und die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in 1957 zurück. Diese gezielte wirtschaftliche Verflechtung sollte militärische Konflikte innerhalb der wachsenden Gemeinschaft für die Zukunft unnötig machen und durch den größeren innergemeinschaftlichen Binnenmarkt das Wirtschaftswachstum beschleunigen und nachhaltig festigen.
In den Folgedekaden traten daraufhin in mehreren Erweiterungsrunden weitere Staaten der als wirtschaftliches Erfolgsmodell wahrgenommenen EG bei. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1992 aus der EG schließlich die heutige EU. Diese übernahm damit als suprastaatliche Institution zunehmend auch eigene Zuständigkeiten im politischen Umfeld. In mehreren Reformschritten und multinationalen Vertragswerken wurde dabei die supranationale Kompetenz der EU ausgebaut und sowohl als wirtschaftliche, wie auch als politische Union Europas etabliert.
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde für die EU in 2007 schließlich ein neuer einheitlicher Rechtsrahmen geschaffen. Diese war damit nun keine Dachorganisation europäischer Staaten mehr, sondern erhielt nach Art. 47-EU-Vertrag selbst eine eigene formale Rechtspersönlichkeit. Damit konnte die EG faktisch aufgelöst und alle ihre Zuständigkeiten auf die EU übertragen werden.
Drei Säulen der europäischen Integration
Diese integrierte das bis dahin vorherrschende „drei Säulen Bild“, das aus einer wirtschaftlichen Europäischen Gemeinschaft (EG), der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) bestand, in ihr nun integrativ ganzheitliches Leitbild. Die EG ihrerseits, die selbst wiederum 1992 aus dem Vertrag von Maastricht und der Umbenennung der EWG als elementarer Teil der wirtschaftlichen Integrationsbewegung Europas hervorgegangen war, wurde damit nunmehr selbst eine der drei nun integrierten Säulen und der wirtschaftliche Eckpfeiler der neuen EU. Die EU an sich bekam mit Schaffung Ihrer neuen Rechtspersönlichkeit Beobachterstatus in der G7, Mitgliedsstatus der G20, Vertretungsrecht ihre souveränen Mitgliedstaaten in der WTO und 2012 sogar den Friedensnobelpreis zuerkannt.
In Bezug auf das wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas hatten die Staats- und Regierungschefs der EG bereits Anfang Dezember 1969 auf ihrem Gipfeltreffen in Den Haag neben dem Willen zur verstärkten politischen Zusammenarbeit weitere Beschlüsse zur beschleunigten Integration durch die Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU/EWWU) gefasst. Neben der politischen Annäherung und Zusammenarbeit der europäischen Staatengemeinschaft war und ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit schon immer eine der stärksten Triebkräfte des europäischen Zusammenwachsens gewesen.
Der EMU ist kein Paradiesvogel
Aus dem Gedanken der multinationalen europäischen Gemeinschaften und den wirtschaftspolitischen, supranationalen Anfängen in der Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM),der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) etablierte sich so innerhalb der 19 europäischen Kernstaaten allmählich eine tatsächliche Europäische (Wirtschafts- und) Währungsunion (EWWU). Als EWWU (engl.: Economic and Monetary Union (EMU)) wird dabei die Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten der EU bezeichnet, sich ab dem 1. Juli 1990 durch die Umsetzung bestimmter wirtschafts- und währungspolitischer Regelungen in einem dreistufigen Prozess enger aneinander zu binden.
Das Hauptziel der EWWU-Regelungen war dabei die Stärkung und internationale Etablierung des Europäischen Binnenmarktes durch eine gemeinsame Währung mit hoher Preisniveaustabilität. Das „Strickmuster“ hierfür lieferte die DM, als starke europäische Währung vor der Euro-Einführung, mit der Intention einer Inflationsrate um die 2% und der Deutschen Bundesbank als ihrem nationalen Währungshüter. Das äußere Zeichen dieser Gemeinschaft wurde bereits am 01.01.1999 mit der Einführung einer einheitlichen Währung, dem „Euro“, als Buchgeld in elf EU-Staaten geschaffen.
Drei Jahre später, am 01.01.2002, folgt daraufhin die Einführung des Bargelds, das die Bürger der bislang 19 einführenden Euro-Staaten, in 4 assoziierten Euronutzer-Staaten und 2 passiven Euronutzer-Staaten (Stand 2015) in Ihrem Geldbeutel verbindet. Die „Eurozone“ an sich umfasst dabei 19 der 28 EU-Staaten (Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien und die Republik Zypern), die die Gemeinschaftswährung Euro bereits eingeführt haben.
Die EWWU-Vereinbarung selbst wurde in den 28 EU-Staaten bisher in unterschiedlicher Art und Weise umgesetzt. Angesichts der aktuellen Euro- und Staatsschuldenkrise (z.B. Beginn der Staatsschuldenkrise in Griechenland im Herbst 2009 gefolgt von Staatsdefizitproblemen Irlands, Portugals, Italiens, etc.) ist es jedoch aktuell sehr ungewiss, ob und wenn ja in welcher Form die EU-Nationalstaaten am Ende des EWWU-Umsetzungsprozesses voll in die Regelungen einer einheitlichen Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion integriert sein werden.
Die aktuell 19 Staaten der Eurozone koordinieren dabei bereits jetzt ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik im Rahmen der Euro-Gruppe. Von den übrigen neun EU-Staaten sind de jure sechs verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald sie die vereinbarten Konvergenzkriterien erreichen. Die drei EU-Staaten Dänemark, Großbritannien und Schweden haben de facto jedoch einen Opt-out als Ausstiegsoption aus der Verpflichtung, den Euro einzuführen zu wollen. Dennoch haben auch die neun EU-Staaten, die bisher nicht Teil der Eurozone sind, in verschiedenen Aspekten die EWWU-Regelungen bereits umgesetzt und koordinieren bestimmte Bereiche ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik mit der Gruppe der 19 Staaten der Eurozone.
Die griechische Tragödio – ein Einzelfall?
Durch die „Griechische Tragödie“ ergeben sich jedoch aktuell sowohl innerhalb der Europäischen Union, als auch innerhalb der Eurozone und den Euro-Ländern selbst zum Teil radikale gegenläufige Strömungen. Während auf der einen Seite von Zusammenwachsen und sowohl einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik in Verbindung mit einer supranationalen Außenpolitik gesprochen wird, entsteht auf der anderen Seite das Gefühl, nicht in einem Haftungsverbund enden zu wollen.
Diese aktuelle „Zerreißprobe“ der EU ist es, die ich nachfolgend näher thematisieren werde. Aufbauend auf diesem „woher kommen wir?“ bzw. „was ist Europa eigentlich?“ wird gerade vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen die Fragestellung „an welchem Scheideweg steht Europa und wo will es / wo wollen wir eigentlich hin(!)?“ immer dringlicher.
- Will (und wird) Europa eine europäische Gemeinschaft/Union der europäischen Nationalstaaten bleiben, weiter zusammenwachsen oder auseinanderdriften?
- Will die Politik die Europäische Gemeinschaft um jeden Preis erhalten und was will die Bevölkerung Europas eigentlich?
- Wie soll ein modernes Europa dann zukünftig aussehen?
- Wird sich Europa, als Wirtschaftsraum und/oder politisch auch über ein „Kerneuropa“ hinaus öffnen oder droht es an globalen Wirtschaftskrisen und der aktuellen Euro- und Staatsschuldenkrise mehrerer europäischer Staaten zu zerbrechen?
- Wird Europa gemeinsam mit einer sich zuspitzenden Flüchtlingsproblematik fertig werden oder überlässt es seinen Mitgliedsstaaten alleine ihrem Schicksaal?
- Wird es sich zu einer „Festung Europa“ ausbauen und abschotten oder global weiter öffnen und damit beginnen eine größere weltpolitische Verantwortung zu übernehmen?
- Wie weit geht hier eine globale, aber zunehmend auch innereuropäische, Solidarität wirklich?
Diese Fragen zeigen eindrucksvoll auf, was aktuell nicht mehr nur Politiker bewegt, sondern sowohl die Bevölkerung als auch die Wirtschaft umtreibt! Die komplexen Verflechtungen und Zusammenhänge, deren Auswirkungen und wirtschaftliche Interdependenzen nun durch eine Krisendekade Europas auch dem Europäer an sich, oftmals schmerzlich, im eigenen Portmonee bewusst geworden sind, ist diese „Zerreisprobe“ Europas, die es auf seine „Zukunftsfähigkeit“ hin testen wird.
Die Schweiz auf einem Sonderweg
Ein interessantes doch ebenso erschreckendes Indiz, wie dringlich diese Fragen nicht nur für Europa und die EU-Politik der souveränen europäischen Nationalstaaten und deren politischer Ausrichtung selbst, sondern auch für die Nicht-EU-Staaten ist, zeigt ein aktuelles und zugleich hoch brisantes Beispiel der Schweiz. Auch wenn es sich bei der „Truppenübung CONEX 15“ um ein rein fiktives Szenario fern jeder Realität handeln soll, so zeigen solche Überlegungen doch eine reale Gefahr auf, die bis vor einigen Jahren nicht einmal zu thematisieren in Erwägung gezogen worden wäre. Vom 16.-25. September 2015 führt die Territorialregion 2 in der Nordwestschweiz und am Jurasüdfuss die Truppenübung „CONEX 15“ durch. Rund 5000 Angehörige der Armee werden mögliche Einsätze zugunsten ziviler Behörden wie die Bewachung und Überwachung wichtiger Infrastrukturen […] trainieren.
Das hierzu verwendete Übungsszenario wird dabei seitens der Schweizer Armee wie folgt geschildert. „In einem fiktiven Europa der Zukunft, mit neuen Ländern und Grenzen, herrscht Wirtschaftskrise. Die Folgen wirken sich auch auf die Schweiz aus: Verknappung der Vorräte, Schwarzhandel, kriminelle Organisationen. Grosse Öl-, Gas- und Getreidevorräte werden zum Ziel von Sabotagen und Plünderungen. Ausserdem führen ethnische Spannungen zu grösseren Flüchtlingsströmen in die Schweiz. Der Bundesrat hat Teile der Armee aufgeboten, um das Grenzwachtkorps zu verstärken und die zivilen Partner der Kantone (Polizei, Feuerwehr, Sanität) subsidiär zu unterstützen. Die Armee wird mit dem Schutz besonders gefährdeter Infrastrukturen der Telekommunikation, der Stromversorgung und der Lebensmittelverteilung beauftragt (Quelle: http://www.he.admin.ch/internet/heer/de/home/aktuell/events/20150825b.html)“.
Externe Einflüsse auf Europas interne Stabilität
Das eigentlich erschreckende an diesem Szenario ist nicht, dass ein europäischer Nicht-EU-Staat sich nicht nur rein theoretisch mit dem Thema „Zerfall Europas“ befasst, sondern vielmehr, dass die weltweiten Konfliktherde, aber auch die wirtschaftliche Situation sowohl außerhalb als auch innerhalb Europas genau diese „größeren Flüchtlingsströmen“ aktuell zu einem brisanten Problem Europas macht, dass derzeit medial allgegenwärtig ist und nicht nur die Frage nach einer Solidarität innerhalb Europas sondern auch darüber hinaus mit neuer Brisanz erfüllt.
Während Milliardenlöcher in den Haushalten der EU-Mitgliedsstaaten die Krisen-Dekade einerseits kennzeichnen und eine massive Euro- und Staatsschuldenkrise hervorgerufen haben, entwickelt sich parallel die Wirtschaftsleistung und Arbeitslosigkeit in Europa sehr stark auseinander. Dieses Phänomen wirft die Frage nach dem Sinn einer einheitlichen europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) erneut auf den Plan und die Agenda vieler europäischer Staats- und Regierungschefs ebenso wie nationalstaatlicher Politik und Wahlkämpfe.
Bereits zu Euro-Einführung hatten unzählige Wirtschaftswissenschaftler und Volkswirte davor gewarnt, dass eine Währungsunion ohne eine tatsächliche Wirtschaftsunion nicht nur den Steuerungsmechanismus der Wechselkurse negiert, sondern auch Einführungsgewinne einer starken Währung in Ländern mit bis dato schwachen Währungen durch eine massiv verbesserte Refinanzierungsseite von Staatshaushalten zu einem unvernünftigen, politisch motivierten, Staatsausgabenverhalten führen wird.
Staatliche Misswirtschaft und Verschwendung sind dabei nur eine der Fassetten, die zusammenfallend mit wirtschaftlicher Stagnation und Krisen die Staatshaushalte etlicher EU-Staaten stark gebeutelt hat. Am Beispiel Griechenlands lässt sich diese Entwicklung in negativ beeindruckender Weise deutlich nachvollziehen. Noch Mitte der neunziger Jahre waren neue Staatsschulden für Griechenland sehr teuer. Der griechische Staat musste den Anlegern für zehnjährige Staatsanleihen rund 18 Prozent Zinsen zahlen. Nach der Euro-Einführung (1999 bis 2002) sank der Zinssatz auf bis zu drei Prozent.
Als die griechischen Staatsprobleme dann (um 2009) offenkundig wurden, stiegen die Zinsen wieder auf über zehn Prozent (vgl. u.a. Spiegel Online). Dieser Euro-Einführungs-Gewinn vieler EU-Länder und deren Staatshaushalten revidierten sich damit allerdings im Kontext der Staatsschuldenkriesen vollkommen. Jedoch hat der staatshaushalterische Refinanzierungsvorteil in der Dekade seines Bestehens gerade in den davon profitierenden Staaten zum Ausbau der Staatsschuldenquote (Staatsschuldenquote oder kurz Schuldenquote, ist in der Finanzwissenschaft eine Kennzahl, die das Verhältnis zwischen den Staatsschulden und dem nominalen Bruttoinlandsprodukt eines bestimmten Staates ausdrückt) geführt.
Expansion des Sozialstaats – der Weg der Tugend?
Einhergehend damit ist häufig eine Ausweitung der Staatshaushalte und der Sozialstaatlichkeit zu beobachten. Aktuell stellt dies Länder wie Griechenland vor ein gewaltiges Problem. Zum einen müssen diese ihre Altschulden mit Zinsen und Rückzahlungsverpflichtungen bedienen ohne an den Finanzmärkten, die ihr Vertrauen in diese Staatsanleihen und Staatskredite verloren haben, weiterhin derart günstige Prolongationsmöglichkeiten wie bisher vorzufinden. Zum anderen kämpfen gerade diese Länder aktuell mit einer Rezension im eigenen Land, dem Wegbruch globaler Absatzmärkte, steigender Arbeitslosigkeit, dem Weggang von jungen gut ausgebildeten Know-How Trägern aus dem eigenen Land, ineffizienten und zum Teil korrupten Bürokratien und gravierenden strukturellen Problemen.
Da unter diesen Rahmenrestriktionen eine Konsolidierung des Staatshaushaltes aus eigenen Anstrengungen heraus – ohne das dafür erforderliche Marktvertrauen und die damit verbundene Kreditgeberseite – schier unmöglich ist, entstand u.a. die Forderung nach einem „Schuldenschnitt“ für Griechenland. Dieses birgt jedoch sowohl die „Ansteckungsgefahr“ anderer EU-Staaten, die ebenfalls in einer Staatsschuldenfalle sitzen, diese Forderung auch für sich geltend zu machen, als auch eine nationalstaatlich schwierig bis gar nicht mehr vertretbare Komponente und politische Brisanz.
Nach Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrise(n) und Milliardenschweren „Rettungsschirmen“ ist es in vielen europäischen Staaten in deren nationaler Politik kaum noch gegenüber der Bevölkerung vertretbar, aus der EU nun einen multinationalen finanziellen Staats-Haftungsverbund zu machen. Diese nationalstaatliche Denke lähmt dabei eine effiziente Umschuldung und Sanierung des griechischen Staatshaushalts, sichert aber andererseits nationalstaatliche Souveränität und die Kontrollinstanz geldgebender zu geldnehmenden Staaten.
Da spätestens seit der großen Lehman Brothers Pleite und deren immensen Auswirkungen, auch den staatlichen Finanzexperten bewusst wurde, wie stark die finzmarktlichen Verflechtungen in der globalisierten Wirtschafts- und Staatengemeinschaft eigentlich greifen und welches Ausmaß bestehende Interdependenzen haben können, möchte keiner der EU-Staaten und deren Staats- und Regierungschefs – insbesondere diejenigen, deren eigene Staatshaushalte nicht viel besser dastehen – eine Staatspleite Griechenlands riskieren. Dennoch ist gerade nach den umfangreichen Rettungskrediten und Staatshilfen für Griechenland und der vielfach eigenen angespannten Finanzlage, ein Schuldenschnitt der EU-Staaten kaum vorstellbar.
Verdummte Bevölkerung – Kommödie oder Tragödie?
Ein sinnvoller Alternativweg, der gerade beschritten wird, ist dagegen der „versteckte Schuldenschnitt“. Dabei hat die Politik es wesentlich leichter die Bevölkerung im eigenen Land in realer Unkenntnis zu lassen und getroffene Entscheidungen in den nationalen Parlamenten und gegenüber der Bevölkerung zu vertreten. Durch die Niedrigzinsphase unterhalb der Inflation, durch Kreditprolongationen ohne Zinszahlungen und die Dehnung von Rückzahlungszielen wird einerseits Luft für Reformen geschaffen, andererseits aber nicht formal auf die Rückzahlung gewährter Kredite verzichtet.
Durch diesen in der Bevölkerung zumeist nicht so wahrgenommenen „Trick“ werden die massiven Schulden der nachfolgenden Generationen durch eine sogenannte „Inflationssteuer“ (Ein Problem dieser Art der Besteuerung ist, dass sie überwiegend kleine und mittlere Vermögen besteuert, die nicht in alternative Anlageformen der Geldhaltung im Sinne einer Wertaufbewahrungsfonktion fliehen können. Auch wenn der Bürger dies meist subjektiv nicht derart wahrnimmt, impliziert eine Inflationssteuer die Ausweitung der Kluft zwischen Arm und Reich.) relativiert und sozusagen weginflationiert. Hierdurch verändert sich das Verhältnis von Nominaler Staatsschuld zum allein inflationell bedingt wachsendem BIP/GDP (Gross Domestic Product) und verbessert damit maßgeblich die Staatsschuldenquote.
Struktur-Reformer werden an der Wahlurne abgestraft
Für das gebende Land stellt dies jedoch faktisch einen fristigkeitsgenerierten Schuldenschnitt dar, da der Realwert des geliehenen Geldbetrages bei Rückzahlung einen inflationsbedingten Kaufkraftverlust hinnehmen musste. Durch diesen Kniff in Verbindung mit der derzeit dauerhaft anmutenden Niedrigzinspolitik der EZB und der Streckung von Rückzahlungsverpflichtungen erkauft sich die Politik durch eine indirekte (und für weniger „Aufschrei“ sorgende) Beschneidung der Märkte, die Zeit für dringend anstehende Reformen.
Wie das deutsche Beispiel der „Schröder´schen-Arbeitsmarktreformen“ (die man ehr einer CDU-, denn einer SPD-Regierung zugetraut hätte) sind derartig gravierende Strukturreformen zwar möglich aber politisch zumeist mit einer „Abstrafung“ durch den Wähler verbunden. Zudem greifen tiefgreifende strukturelle Reformen im Krisenland nahezu immer erst mit einem größeren Zeitversatz, so dass die Kosten der Einführung der aktuell amtierenden Regierung angelastet werden, während die Einführungsgewinne von der Nachfolgeregierung für sich vereinnahmt werden können.
Diese Zeitinkonsistenz führt daher im spieltheoretischen Ansatz zu einem politischen Gefangenendilemma und macht eine wirkliche Reformpolitik und -bereitschaft so schwierig. Nach der Theorie der Politischen Ökonomie steigt daher die Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen Umsetzung radikaler Trasformationsprozesse struktureller Art erst unter zunehmendem extrinsischen Druck oder durch politischen Stimmentausch bzw. einen langfristigen Legislaturperioden Horizont z.B. durch die Verlängerung von Wahlperioden oder eine große Koalition bzw. ein Einparteiensystem oder einen „benevolent dictator“.
Das Wachsen dieses extrinsischen Drucks auf Griechenland Reformen durchzuführen ist derzeit sowohl aus Sicht des IWF als auch der europäischen Staatengemeinschaft zu beobachten und stellt m.E. einen sinnvollen Trigger zur Reformetablierung dar. Negativ wirkt sich nach meiner Auffassung allerdings ganz klar der kurzfristige Zeithorizont der souveränen europäischen Nationalstaaten aus, das „Griechenlandproblem“ schnell lösen zu wollen.
Auch wenn es aus nationalstaatlicher Sicht durchaus berechtigt erscheinen mag, fremde Probleme nicht in das eigene Land importieren zu wollen, so werden die umsetzbaren Kurzfristreformen allenfalls Second-Best Lösungen darstellen und keinen wirklichen Strukturwandel bewirken oder die Mittel- und Langfristperspektive sogar noch verschlimmern (ein gutes Beispiel hierfür ist der Einfluss des IWF auf Argentinien gewesen).
An diesem Punkt kommt wieder die ursprüngliche wirtschaftswissenschaftlich geprägte Forderung einer realen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Währungsgemeinschaft, die bei Euro-Einführung postuliert wurde, auf den Tisch. Auch wenn der Normalbürger unter dem Euro-Zeichen eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft subsummiert, so existiert doch bislang lediglich eine europäische Währungs-/Geld(markt)politik (EZB) jedoch keine europäische Fiskal- und Parafiskalpolitik (souveräne EU-Einzelstaaten).
Die fiskalpolitische Finanzhoheit über die wirtschaftspolitischen Instrument aus Steuern und Staatsausgaben sind weiterhin in nationalstaatlicher Hoheit und dienen damit zumeist individualstaatlichen Zielen anstatt einem einheitlich europäischen Gesamtbild. Dieses lässt sich jedoch, egal wie volkswirtschaftlich sinnvoll dies aus EU-Sicht auch sein mag, so schnell nicht ändern. Hierzu müssten massiv nationale Kompetenzen der Regierungen aufgegeben und in die alleinige Hoheit einer europäischen Regierung übergeben werden.
Diesen Schritt innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft sehe ich allerdings derzeit weder vor dem Hintergrund finanziell maroder Mitgliedsstaaten und politisch strukturellen Divergenzen als auch vor einem konsensfähigen Schlüssel der Macht- und Kompetenzverteilung und der offenen Frage, was eine demokratische Legitimation hierfür ist, nicht als gegeben oder zeitnah implementierbar an.
Der Konsens, was europäisch-demokratisch ist, scheitert hier allein schon an der Frage von Einfluss und Mitbestimmung. Ist hier die Besetzung einer EU Regierung nach Köpfen/Einwohnern in den Nationalstaaten, nach flächenmäßiger Größe eines Mitgliedlandes, nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder Beitrag zum EU-Haushalt oder nach was auch immer wirklich demokratisch? Dieses Denken birgt in der aktuellen Situation von mehr Problemen als Lösungen durch die EU die reale Gefahr einer Renationalisierung der Nationen, das ich sowohl für den europäischen Gedanken, wie auch für zukünftiges Konfliktpotenzial (wirtschaftlich, politisch, militärisch) für hochgradig gefährlich einschätze.
Frieden und Wohlstand: Eine Zukunftsinvestition?
In einigen Ländern Europas ist diese nationalistisch konservative, nationalstaatliche Restaurationspolitik (vgl. Bismarck), in den letzten Wahlkämpfen bereits zu beobachten gewesen und findet zum Teil in antieuropäischen Strömungen und Austrittsüberlegungen (siehe PEGIDA in Deutschland, Front National (FN) in Frankreich, etc.) ihren Niederschlag. Gerade vor dem historischen Hintergrund, dass das vereinte Europa auf die längste Zeit ohne Kriege in seiner Geschichte zurückblickt und die Bedrohung durch den Kalten Krieg (bis vor kurzem noch völlig) überwunden scheint(/schien) (vgl. den Ukraine-Konflikt), ist es die Aufgabe der europäischen Politik, nicht nur aus der Friedensdividende zu leben, sondern dieses Wohlstandsleben nunmehr mit einer „Zukunftsinvestition Europa“ nachhaltig stabil auszugestalten und auf eine gesamteuropäische Basis zu stellen.
Als Bild hierzu kann die Konfliktentwicklung Europas dienen. In der Zeit des „Kalten Krieges“ war beispielsweise der Auftrag deutscher Streitkräfte bis ca. 1989/90 noch recht klar definiert. Die Landesverteidigung der eigenen Heimat war dabei der explizit titulierter Auftrag der Bundeswehr und damit im NATO-Bündnis auch die Gestellung der ersten Linie an der innerdeutschen Grenze, die die Einflusssphären der beiden Supermächte USA und UdSSR über Jahrzehnte innerhalb Europas in Ost und West trennte.
Mit dem Wegfall dieser Bedrohung veränderte sich jedoch nicht nur die geografische Karte Deutschlands und anderer europäischer Staaten, sondern auch der Auftrag und damit die eigentliche Daseinsberechtigung europäischer Streitkräfte per se. Wie es Volker Rühe im Zusammenhang der NATO-Osterweiterung so trefflich (wenn auch sehr bildlich „platt“) formulierte, war Deutschland spätestens mit der am 1. Mai 2004 vollzogenen Osterweiterung der EU nur noch „von Freunden umzingelt“. Doch auch hier veränderte sich die weltpolitische Lage radikal und entwickelt nationaleuropäische Armeen immer weiter hin zu einer europäischen Armee mit außereuropäischen Einsatzgebieten und internationalen Stabilisierungsmissionen.
„Je billiger es wird, Krieg zu führen, um so teurer wird es, den Frieden zu bewahren“, beschreibt den Wegbruch des Staatlichen Gewaltmonopols in vielen (Bürger-)Kriegsländern recht zutreffend. Wie uns die steigenden Flüchtlingszahlen nach Europa erschreckend vor Augen führen ist auch hier keine nationalstaatliche Kompetenz in der Lage eine Lösung im eigenen Staat – allenfalls eine Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen und bestenfalls eine gelungene Integration – herbeizuführen, sondern nur ein Ansatz über das globale öffentliche Gut Sicherheit nachhaltig realisierbar (s.u.).
Exkurs zur Flüchtlingsproblematik und dem globalen öffentlichen Gut Sicherheit: Die Suche nach einem Alternativszenario des persönlichen Diemers im Heimatland wirkt als subjektives Fluchtmotiv, kann aber unter gravierenden strukturellen Unzulänglichkeiten und Gefahren (bspw. Krieg, etc.) im Fluchtland so etwas wie eine Allgemeingültigkeit im Fluchtland selbst erlangen. Dieses kann u.a. durch ein Modell der Arbeitgeberattraktivität (als Teil der Unternehmensattraktivität; Attraktivitätsfaktoren nach Schmicker et al. (2009, 2011) erweitert um den instrumentell-symbolischen Rahmen nach Van Hoye (2008) und Lievens et al. (2007) i.V.m. der Arbeitgeberattraktivität nach Huf (2007) unter Beachtung einer Einordnung in den volkswirtschaftlichen Gesamtrahmen.; Quelle: Abb.11 in ISBN 978-3-8442-9474-3) und seinen Alternativzuständen charakterisiert werden und bietet hier ebenso einen Ansatz zur Beschreibung von politisch wie auch wirtschaftlich motivierten Fluchtbewegungen.
Hierbei gilt, sind sowohl die Faktoren der Arbeitsattraktivität zur Einkommensgenerierung, wie auch die Faktoren einer funktionierenden Sozialstaatlichkeit als Einkommensgenerierungsalternative nicht mehr existent oder durch gesellschaftspolitische Zerwürfnisse nicht mehr in einem Maße der Grundbedürfnisbefriedigung vorhanden, so nimmt die Bereitschaft zum „voting on [your] feet“ in Bezug auf die geografische und nationalstaatliche Zugehörigkeit stark zu.
Dies führt zur „Flucht aus der Unzulänglichkeit“ in Verbindung mit der Bereitschaft zur Suche einer besseren Zukunft unter der Unsicherheit deren Erreichung und den Gegebenheiten der dortigen tatsächlichen Strukturen. Die Erwartungshaltung dessen, was man nach seiner Flucht im „gelobten Land“ und Fluchtziel vorfindet wird dabei in Unkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten, heutzutage in ausgeprägter Weise durch Medien, insbesondere soziale Medien und Netzwerke, beeinflusst. Hieran zeigt sich einmal mehr, das durch das Fehlen globalstaatlicher Krisen- und Kriegspräventionsmaßnahmen, sowohl Konflikte als auch politische, soziale oder wirtschaftliche Krisen nicht ausgesessen oder gar dauerhaft ignoriert werden können, sondern in ihrer Ausstrahlungswirkung mittel bis langfristig immer auch einen „Import ins eigene Land“ darstellen.
Die prozessuale Darstellung einer staatlichen Konfliktvermeidungsstrategie (Quelle: Abb.4 in ISBN 978-3-8442-9474-3) verdeutlicht hier welche globalstaatliche Herausforderung Wohlstandsstaaten in Bezug auf globale öffentliche Güter wie Sicherheit haben.
Hierbei ist es wichtig, nicht nur lokal private Güter, Allmendegüter, Club-/Mautgüter und (reine) öffentliche Güter anhand ihrer jeweiligen Rivalität im Konsum zu charakterisieren, sondern auch globale öffentliche Güter (in mehreren Staaten konsumiert) in die politische Betrachtung mit auf zu nehmen. Ebenso ist die Einbeziehung von Interdependenzen und von lokalen sowie globalen externen Effekten i.V.m. Gütern und deren Nutzung (ggf. Übernutzung), Verteilung und Verfügbarkeit als öffentliche Güter im Spannungsfeld zu privaten Gütern, Externalitäten und globalen öffentlichen Gütern (Quelle: Abb.2 in ISBN 978-3-8442-9474-3) zu betrachten.
Spätestens hieran, wenn nicht bereits am eigenen Facebook-Account, wird sehr schnell deutlich, wie vernetzt und globalisiert die heutige Welt bereits ist. Gleiches gilt insbesondere für den globalen Wirtschaftsraum, der durch offene Volkswirtschaften und Outsourcing in Verbindung mit der Splittung von Wertschöpfungsketten derart komplexe Abhängigkeiten geschaffen hat, dass die aktuellen Probleme nur noch gemeinschaftlich gelöst werden können.
Andere Statements hierzu lassen sich zwar populistisch oft „besser verkaufen“, doch berücksichtigen nicht die sozialen Kosten einer Pull-Apart-Strategie und dem Deadweight Loss (vgl.: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/e/ef/Monopoly-surpluses.svg/250px-Monopoly-surpluses.svg.png ; https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=deadweight+loss ) für nationale, wie auch globale Wohlfahrtsökonomische Entstehungs- und Verteilungsrechnungen.
Solidarität – welche Solidarität?
Derzeit ist der Wohlstand Europas durch die europäische Währungsunion / Eurozone und die Anfänge einer europäischen Wirtschaftsunion, breiter denn je. Welchen Weg sollte Europa nun einschlagen um diesen zu schützen und zu mehren aber dennoch eine annähernd gerechte Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes zu ermöglichen? Wie könnte die Zukunft des europäischen Kontinents im globalen Wettbewerb zukünftig aussehen und welche politische Rolle wird ein geeintes Europa weltpolitisch spielen oder wird die europäische Einheit unter nationalen Staatsinteressen zerbrechen? Die Lösung dieser Fragen wird zu einer gefährlichen Gratwanderung für alle Europäer und die nächsten europäischen Generationen per se werden!
Betrachtet man die Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Europas (vgl. Freizügigkeit der EU-Bürger), die durch die Wirtschafts-, Finanz- und Staatshaushaltskrisen, aber auch schlicht bessere Berufsperspektiven im innereuropäischen Ausland hervorgerufen wurden, stellt man ebenso wie in der Betrachtung weltpolitischer Konflikte und Migrations-/Flüchtlingsströmungen (sowohl geschichtlich, wie auch aktuell) fest, dass die Maslowsche Bedürfnispyramide (vgl. z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie) ein gutes Erklärungsmuster für aktuell beobachtbare Wirkungs-, Politik- und Wirtschaftszusammenhänge einer Krisendekate liefert. Bricht der gewohnte Lebensstandard und eine positiv antizipierte Entwicklungserwartung ein, wird die Erfüllung der Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlaf und der körperlichen Unversehrtheit / persönlichen Sicherheit immer elementarer. Die Präferenzmuster zwischen Grundbedürfnissen, Sicherheitsbedürfnis, primärem Sozialbedürfnis (Beziehungen und Kontakte), sekundärem Sozialbedürfnis (Ich-Bedürfnis / Anerkennung) und Selbstverwirklichungsbedürfnis verschieben sich dabei von Wachstumsbedürfnissen weg hin zu Gunsten lebensnotwendiger Defizitbedürfnisse. Aus dieser Feststellung ergeben sich zwei Fragen für ein Europa der Zukunft:
- „Welche innereuropäische Solidarität wird Europa zeigen, welche unvermeidlichen Einschnitte wird es vornehmen? Wie werden überschuldete Staatshaushalte aus der Staatsschuldenkrise/-spirale zurück auf ein tragfähiges Verschuldungsmaß gebracht?“ und
- „Welche Verantwortung für globale öffentliche Güter wie Sicherheit, Zugang zu Trinkwasser etc. wird Europa politisch übernehmen und wird es der EU gelingen eine einheitliche europäische Außenpolitik zu etablieren, die durch Solidarität und Prävention globale Auswirkungen von Instabilität, wie die aktuellen Flüchtlingsströme, überflüssig machen wird?“.
Um hierfür einen ersten gedanklichen Lösungsansatz aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht liefern zu können, möchte ich noch einmal kurz auf die voranstehend aufgeworfene Frage „was ist gerecht?“ zurückkommen und gleich vorwegstellen, dass sich diese auch hier weder abschließend noch ansatzweise lösen lässt. Betrachtet man beispielsweise die Entstehungsseite von Wohlstand würde man andere Implikationen treffen als bei einer Betrachtung von der Verteilungsseite! Wäre es gerecht, wenn eine Person täglich 23 Stunden am Tag in einer sibirischen Raffinerie arbeiten müsste und „sein Freund“ eine einzige Stunde in einem karibischen Traumhotel? Wäre es dann noch gerecht, wenn beide den gleichen Lohn bekämen, aber für den Arbeiter in Sibirien das Brot doppelt so teuer wäre wie für den in der Karibik? Allein an diesen Beispielen lässt sich verdeutlichen, wie schwierig der Begriff einer objektiven Gerechtigkeit belegt ist und das auch die Anwendung des Gini-Koeffizient immer lokal determiniert bleibt. Gleiches gilt daher sowohl für die europäische Wirtschaft wie auch für die EU Politik.
Nach meiner Auffassung wird eine „Europäisierung“ und die Lösung der europäischen Staatsschuldenkriese, aber auch die notwendige Etablierung einer gesamteuropäischen Politik, weder ohne die Aufgabe von erheblichen nationalen Kompetenzen noch ohne Verzichte wohlhabender Staaten einhergehen können. Dieser Prozess eines europäischen Zusammenwachsens setzt aber ebenso den politischen Willen, wie auch die Europäisierungsbereitschaft der Bürger über nationalgeprägte Denkmuster hinaus voraus und wird weder ein kurz- noch mittelfristiger Prozess sein. Unter der Intention konsolidierter europäischer Staatshaushalte und einer behutsamen Abgabe nationalstaatlicher Hoheiten, sehe ich hier das naheliegest Europäisierungs- & Zusammenwachstumspotenzial im parafiskalen Bereich der Sozialversicherungsträger.
Dieses umfasst (semistaatliche) Institutionen und Stellen, die aufgrund eines Versicherungsverhältnisses Leistungen der sozialen Sicherheit erbringen. Zu ihnen gehören für Deutschland unter anderem die gesetzlichen Krankenkassen und die staatliche Rentenversicherung. Im Fiskalpolitischen Bereich selbst sehe ich – der Notwendigkeit geschuldet – das größte Einigungspotenzial auf der fiskalpolitischen Entstehungsseite. Hier schätze ich das Potenzial für eine vereinheitlichte europäische Steuergesetzgebung, nach effektivem jedoch hoch komplexem deutschem Vorbild, unter nationaler Ausführung am höchsten ein.
Mittel- bis langfristig halte ich hier eine gesamteuropäische Umsetzung und gegenseitige Etablierungsunterstützung nicht nur für sinnvoll, sondern auch für realistisch, da das Trigger Event maroder Staatshaushalte in Verbindung mit ineffizienten Steuererhebungsbürokratien für Länder mit überschuldeten Staatshaushalten eine Reformierung lukrative erscheinen lässt. Einführungskosten können dabei in der nationalen Politik glaubhaft dem extrinsischen Zwang der „Geldgeberländer“ angelastet werden wohingegen die Effizienzgewinne mittelfristig dem eigenen Staatshaushalt zu Gute kommen.
Letzte Chance?
Für die EU birgt dies die (vielleicht letzte) große Chance einer einheitlichen europäischen Steuerpolitik, die es so auf dem Wege einer rein politischen Einigung ohne die aktuell akuten Umsetzungszwänge wohl so schnell nicht wieder geben wird. Für die fiskalpolitische Verteilungsseite sehe ich hier jedoch eine Abgabe nationaler Souveränität und Entscheidungshoheit allein schon aus wahltaktischen Politikerwägungen ehr als schwierig an.
Ein möglicher Ausweg könnte die Aufblähung eines gemeinsamen europäischen Haushaltes sein. Dieser ist jedoch bereits seit langem politisch kontrovers diskutiert und wirft erneut die Frage der „gerechten europäischen Mitbestimmung“ auf. Am Beispiel der Geld(markt)politik, die die Nationalstaaten und deren Nationalbanken an die EZB als supranationale Institution abgetreten haben, lassen sich Erfolg und Stabilität einer solch integrativen Entwicklung jedoch sehr schön nachvollziehen. Dennoch zeigt auch hier die Halbumsetzung einer Währungsunion ohne wirkliche Wirtschafsunion beispielsweise am IS-LM-Modell und dem AS-AD-Modell (vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Geldpolitik#Erkl.C3.A4rung_am_AS-AD-Modell) sehr schön auf, wie miteinander verflochtene nationale Volkswirtschaften bei divergierenden Staatshaushaltsentscheidungen zum Auseinanderdriften anderer Faktoren der nationalen Ökonomien führen.
Letztendlich wird der Weg Europas daher nur drei Pfaden folgen können. Der erste und schlechteste wäre ein Renationalisierung europäischer Staaten und das Auseinanderbrechen der EU. Damit würde Europa wieder auf die Situation Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts zurückfallen und die damaligen Probleme und Konfliktpotenziale erneut heraufbeschwören.
Der zweite und ebenfalls von Zerwürfnissen geprägte Weg wäre ein „Weitermachen wie bisher“. Dieses würde zwar die Probleme immer wieder weiter vor sich herschieben, aber sich irgendwann wohl ähnlich angestauter tektonischer Verschiebungsenergie in einem Erdbeben entladen. Auf dem Weg dahin würden jedoch die Staaten, die die Europäischen Kriterien nicht mehr erfüllen und keinen „Mehrwert Europa“ für ihr eigenes Land mehr sehen, vom europäischen Gedanken abfallen und die EU als ineffizienten „Interessenvertreter der anderen“ verlassen. Damit würde auch der zweite Weg bis zum endgültigen Zerwürfnis eine wohlhabende „Festung Europa“ und ein auf soziale Mildtätigkeit angewiesenes „Resteuropa“ hervorbringen, dass sich in einer Asymptote dem ersten Weg annähert.
Europäische Einheit – der Königsweg?
Der dritte und meiner Auffassung nach erstrebenswertere Weg, wäre die Europäische Einheit. Die Aufgabe nationaler Staats- und Politikinteressen sehe ich dabei allerdings auch als elementaren Showstopper. Diese Kluft wird sich auch niemals vollständig überwinden lassen und soll es auch nicht! Unter Bewahrung nationaler Identität und Schaffung eines europäischen Gesamtverständnisses ist es über mehrere Generationen hinweg möglich, eine europäische Integration zu ermöglichen.
Die europäische Freizügigkeit (s.o.; Freizügigkeit: das Recht einer Person zur freien Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes. Unter Freizügigkeit werden im Vertrag über die Arbeitsweise der EU und dem auf Grund dieses Vertrags ergangenen Sekundärrechts die Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der allgemeinen Freizügigkeit des Unionsbürgers verstanden; https://de.wikipedia.org/wiki/Freiz%C3%BCgigkeit) ist diese Intention, die es zusammen mit zunehmender Mobilität und einem leichteren Wissenszugang ermöglicht, langfristig „diesen Europäer“ sein Selbstverständnis als „Europäer mit nationaler / regionaler Verwurzelung“ zu geben. Jedoch bedarf es hierzu sowohl dem politischen Willen, diese Freizügigkeit auch in Krisendekaden beizubehalten, der politischen Stärke nationale Kompetenzen auf supranationale Organisationen und Institutionen zu übertragen, als und vor allem auch dem Faktor Zeit!
Aus meiner Sicht scheint es hier sehr sinnvoll zu sein, die Zwänge der Krisenjahre dafür zu nutzen, ein nachhaltiges Zusammenwachsen und eine Vereinheitlichung zu generieren, die eine nachhaltige Basis für ein gemeinsames Wachstum legt. Dieses sollte weniger einem kurzfristigen nationalen Politikkalkül und der Generierung von Kurzfristeffekten und Einführungsgewinnen unterliegt, sondern vielmehr das Fundament für ein wirtschaftliches Langfristwachstum legt.
Auf Grundlage eines „größeren Kuchens“ lässt sich dann auch wieder – wenn auch nicht ad hoc – eine Verteilungspolitik machen, die sich dann allerdings auch folgerichtig vom Europadenken zum Globalstaat und der nachhaltigen Sicherung globaler öffentlicher Güter (vgl. https://books.google.de/books?id=VXHSAwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false ; S. 4 bis 11 ) und internationaler Grund- und Menschenrechte hin entwickeln muss. Beides setzt die Bereitschaft der Bürger, aber und insbesondere auch der politischen Entscheidungsträger voraus, sich persönlich mehr für Staat und die Gesellschaft einzusetzen (vgl. u.a. http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/10495142.2014.985561?journalCode=wnon20&#.Ve2YLP4w9aQ).
Der Autor: Markus Müller ist Oberleutnant der Reserve, Diplom-Volkswirt und Bankkaufmann