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Das binäre Bewerberverfahren – ein Erfolgsgeheimnis aus der Vergangenheit?

Gerhard Kenk
Gerhard Kenk

Von Gerhard Kenk, Crosswater Job Guide

An allen Ecken und Enden lese ich über die Unzulänglichkeiten der Bewerbungsprozesse, welche Ärgernisse damit verbunden sind und wie frustrierte Bewerber vielleicht ihre Meinung über die ach so glitzernden Arbeitgeber-Marken ändern. Die Medien haben längst erkannt, dass das Thema „Bewerbung“ ein richtiger Zeilenfüller sein kann. In unendlichen Wiederholungen werden die vermeintlich goldenen Regeln der Bewerbungsmappe, des Bewerberfotos, des Lebenslaufs und des Anschreibens bis zum Erbrechen beschrieben und diskutiert. Die Chancen auf Verbesserung der Situation tendieren gegen Null.

In meinem früheren Berufsleben, also noch vor der geplatzten DOT.com-Blase, vor Recruiting 2.0, vor Candidate Experience und auch vor Facebook, Xing oder LinkedIn habe ich tatsächlich einen beträchtlichen Teil meiner Arbeitszeit mit Bewerberauswahl und Jobinterviews aufgewendet – schliesslich wollte ich Mitarbeiter-Teams zusammenstellen, die nicht zur Kreismeisterschaft sondern eher zur Weltmeisterschaft qualifiziert waren. Damals, 1980, war ich als „Profit Center Manager“ für Projekte, Kundenbeziehungen und Mitarbeiter voll verantwortlich, kurzum, ich hatte keine Ausreden, wenn etwas wirklich schief lief. Sieben Jahre lang – soviel sei hier verraten – habe ich für eine börsennotierte IT-Beratungsgesellschaft gearbeitet und dort in der Realität kennen gelernt, dass Recruiting damals anders gelebt wurde.

Das Bewerbungsverfahren basierte auf einer binären Entscheidungskette. Binär, weil es ja für IT-Geeks nur zwei Zustände gibt: Null oder Eins, Ja oder Nein. Ein Bewerber erfüllt die Einstellungsanforderungen oder auch nicht. Ein Bewerber wird eingestellt – oder auch nicht. Kandidaten-Short-List oder engere Wahl? Der richtige Bewerber wird eingestellt. Basta.

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Und wie hat sich das konkret in der Praxis ausgewirkt?

Bewerbungsmappen im Posteingang

Jeden Morgen wurden die postalisch eingegangenen Bewerbungsmappen von einem Manager durchgesehen – dieser musste eine einzige Entscheidung treffen: Ist die Bewerbung aus diversen Gründen nicht akzeptabel (die NEIN-Alternative), so wurde dem Bewerber noch am gleichen Tag eine schriftliche Absage erteilt. Entsprach der Kandidat den Vorstellungen und dem Anforderungsprofil des Arbeitgebers, wurde er noch am gleichen Tag zu einem Vorstellungsgespräch in den nächsten Tagen eingeladen (die JA-Alternative). Gleichzeitig wurden dieses Jobinterview in den Terminkalender von drei Mitarbeitern eingetragen: Ein IT-Consultant für die fachliche Beurteilung, ein Profit-Center-Manager sowie der Geschäftsführer. Ausreden wurden nicht akzeptiert.

Jobinterview als binäre Entscheidungskette

Am Tag des Vorstellungsgesprächs wurde der Bewerber zunächst vom Geschäftsführer begrüßt. Das Interview-Prozedere wurde erläutert, etwas Small Talk diente zur Auflockerung – und der Geschäftsführer musste eine Entscheidung treffen, ob beim Bewerber die Chemie stimmt, ober er zum Unternehmen, den Kunden und den Kollegen passen würde. Im Zweifelsfall wurde dem Bewerber dies mitgeteilt und er wurde wieder auf den Heimweg geschickt.

Das Fachgespräch

Anschliessend führte ein IT-Consultant mit dem Bewerber, also dem potentiellen zukünftigen Kollegen, alleine ein fachliches Gespräch quasi auf Augenhöhe, um Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten zu eruieren. Falls der Bewerber diese Hürde nicht schaffte, musste der Consultant diese Entscheidung ohne jegliche Rücksprache mit anderen Kollegen treffen und dies auch dem Bewerber mündlich begründen. Ein Nein war das Ende des Jobinterviews, ein Ja führte in die nächste Runde. Der IT-Consultant konnte sich um eine Entscheidung nicht herumdrücken – und das wusste er auch.

Nach diesem Prinzip folgten zwei weitere Einzelgespräche mit dem Profit-Center Manager und dem Geschäftsführer. Hatte der Bewerber alle Stufen erfolgreich gemeistert, wurde ihm dann vor dem Ende des Jobinterviews ein schriftlicher Arbeitsvertrag mit Einstellungstermin und Jahresgehalt ausgehändigt. Danach hatte der erfolgreiche Bewerber etwa eine Woche Zeit, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen.

Zusammenfassend wurden bei diesem binären Bewerberverfahren folgende Prinzipien umgesetzt:

  • Ein erfolgreicher Bewerber, der alle Stufen mit „JA“ durchlief, bekam definitiv ein Vertragsangebot; ein „NEIN“ beendete das Jobinterview.
  • Die im Jobinterview involvierten Mitarbeiter führten ihre Gespräche alleine und mussten auch alleine entscheiden, ob der Bewerber diese Hürde schafft. In der Praxis entpuppte sich dieses Prinzip als knallharte Anforderung, denn ein Mitarbeiter musste eine Entscheidung ohne wenn und aber treffen. Eben eine binäre Entscheidung: Ja oder Nein – und er musste seine Entscheidung auch dem Bewerber entsprechend begründen.
  • War ein Bewerber nicht gut genug, erfolgte eine Absage. Konsequenterweise erhielten die guten Bewerber noch an Ort und Stelle einen Arbeitsvertrag.
  • „Drum prüfe wer sich ewig bindet – ob sich nicht doch was Besseres findet“. Dieser alte Zopf wurde konsequent abgeschnitten. Ein guter Bewerber ist ein passender Bewerber und hat ein Arbeitsangebot verdient. Und es gibt ja noch die Probezeit und eine Kündigungsfrist.

Und jedes vermeintliche perfekte Bewerbungsverfahren ist nicht vor Fehlentscheidungen geschützt. Menschen handeln, Menschen entscheiden. So musste ich auch selbst in meiner Vorgesetzten-Rolle vier Mitarbeiter kündigen, weil sie die Anforderungen nicht erfüllten – und diese Mitarbeiter hatte ich selbst eingestellt. Ein bittere, aber notwendiger Lernzprozess.

Prokrastination: Wenn der „Sense of Urgency“ fehlt

Andere Vorgehensweisen, wie sie heute alltägliche Praxis im Recruiting sind, führen zur Erledigungsblockade oder zu einem Aufschiebeverhalten. Diese Prokrastination sehen wir alle in der großen Politik und der kleinen betrieblichen Praxis.

So präsentiert das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in seinem jüngsten Kurzbericht auch eine Analyse, wie sich die durchschnittliche Besetzungsdauer im Zeitverlauf verändert hat. Und diese Zahlen sind eigentlich ernüchternd – eine Ohrfeige für das Recruiting. So stieg seit dem Jahr 2010 bis zum Jahr 2015 die durchschnittliche tatsächliche Besetzungsdauer von 70 Tagen auf 85 Tagen an. Hat sich der Arbeitsmarkt so stark gewandelt, sind die Anforderungen – also die durchschnittlichen Anforderungen – an Bewerber so radikal anders definiert oder dehnt sich das HR-Bürokratie-Monster immer weiter aus?

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Hier ist HR eindeutig in der Verantwortung, für schlanke und schnelle Bewerbungsprozesse zu sorgen. Damit beeinflussen sie auch insbesondere bei Honorar-orientierten Unternehmen wie Consulting, IT-Agenturen, Rechtsanwaltskanzleien oder bei Ingenieurdienstleistungen die Bottom-Line des Unternehmens. Eine verzögerte Stellenbesetzung kostet Umsatz – und dieser Umsatzverlust wird oft durch Bürokratie und Nachlässigkeit verschenkt.

Die Management-Maxime „Sense of Urgency“ gilt auch für die Personalbeschaffung.

 

 

 

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