Amazon: Die Mitarbeiter als High-Performance-Meerschweinchen?
von Helge Weinberg
Amazon-Gründer Jeff Bezos ist nicht für eine mitfühlende Art bekannt. Seit einem Bericht in der New York Times (NYT) vom 15. August (http://www.nytimes.com/2015/08/16/technology/inside-amazon-wrestling-big-ideas-in-a-bruising-workplace.html) allerdings ist Empathie und Verständnis angesagt. Das dürfte einem Menschen schwer fallen, der laut dem NYT-Bericht Harmonie am Arbeitsplatz für überbewertet hält. „Der Artikel beschreibt nicht das Amazon, das ich kenne“, schrieb Bezos in einer E-Mail an die Mitarbeiter. Warum tun sich Menschen einen Job bei Amazon an? Hier der Versuch einer Erklärung.
Sind die Mitarbeiter bei Amazon Humankapital-Meerschweinchen, deren Leistungsfähigkeit bis zum Anschlag ausgereizt wird? Laut der NYT ist es so.
„The company is conducting an experiment in how far it can push white-collar workers to get them to achieve its ever-expanding ambitions”, so lautete der Untertitel des Berichts in der NYT über ein Unternehmen, dessen Atmosphäre als “bruising” beschrieben wurde. Als verletzend, zerstörerisch.
Amazon will die besten Mitarbeiter gewinnen
Auf der einen Seite finden sich Denunziation als Grundprinzip in der Zusammenarbeit und endlose Arbeitszeiten, auf der anderen Seite der Anspruch, die besten Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden. Amazon findet diese meist auch. Wie passt das zusammen? Die „Leadership Principles“ von Amazon (http://www.amazon.jobs/principles) geben Rätsel auf. Zumindest in den Augen der Anleger tun dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens weder kritische Medienberichte noch ein hoher turnover an Personal Abbruch. Im letzten Monat überholte Amazon an der Wallstreet Walmart als wertvollstes Handelsunternehmen.
Nun ist es so, dass sich bei einem Unternehmen nicht immer die Mitarbeiter bewerben, die dort hin passen. Viele Menschen stehen bei Global Playern Schlange, weil sich der Job gut im Lebenslauf macht. Damit sind diese wiederum nicht immer zufrieden. So hatte Larry Page vor einiger Zeit den unternehmerischen Geist der Angestellten bei Google vermisst, die gute alte Startup-Zeit. Adidas wiederum hatte einmal geklagt, dass Bewerber zu stark auf die Marke schauen würden und falsche Erwartungen an das Unternehmen hätten.
Reputation ist Bewerbern nicht so wichtig
Bewerber sind bemerkenswert immun gegen Reputationsverluste der Objekte ihrer Begierde. Ein Beispiel: Im jüngsten GPRA-Vertrauensindex (http://www.pr-journal.de/lese-tipps/studien/16325-gpra-vertrauensindex-juli-2015-vertrauen-der-deutschen-in-tourismusbranche-ist-hoch.html) hatte die Finanzbranche ihren soliden letzten Platz souverän verteidigt. Schlechter ging es kaum. Grund genug für meine neugierige Frage an die Personaler eines führenden Unternehmens der Branche, ob denn die Bewerberzahlen zurückgegangen seien. Nein, im Gegenteil, alles ist gut, so lautete die Antwort.
Manche Unternehmen versuchen bei überzogenen Erwartungen der Bewerber gegenzusteuern und kommunizieren unmissverständlich, wer sich bei ihnen wohlfühlen wird und wer nicht. Deshalb ist Employer Branding eine sinnvolle Option – plus daraus resultierende Arbeitgeberkommunikation.
Wer sich bei Amazon wohlfühlt
Nur: Welcher Mensch soll sich bei Amazon wohlfühlen? Der Bericht in der New York Times hat die „Risiken und Nebenwirkungen“ der Arbeit für Amazon-Mitarbeiter deutlich gemacht. Trotzdem wird es auch zukünftig viele Menschen geben, die sich bei Amazon bewerben. Sie bleiben dort nicht lange, im Schnitt nur ein Jahr. Der NYT-Bericht verdeutlicht den Konflikt zwischen den “punishing aspects of their workplace with what many called its thrilling power to create”. Vor allem junge Menschen dürften sich angesprochen fühlen, für Amazon an die persönlichen Grenzen zu gehen. Und Amazon macht sich gut im Lebenslauf. Sicherheit ist ein enorm wichtiger Faktor für die heutigen Bewerber.
Feelgood-Manager gibt es nicht
Amazonians leben spartanisch an ihrem Arbeitsplatz, Feelgood-Manager gibt es nicht. Workaholics ohne Privatleben, die gerne unter Druck arbeiten – so beschreibt einer der mehr als 5.800 Kommentatoren (http://www.nytimes.com/2015/08/19/technology/amazon-workplace-reactions-comments.html) des NYT-Artikels die Amazonians. Er stellt eine interessante Frage: „Wie groß wäre erst der Unternehmenserfolg, wenn sich Amazon ebenso obsessiv um seine Mitarbeiter kümmern würde wie jetzt um seine Kunden?“
Diese Frage dürfte sich Jeff Bezos nicht stellen. Noch nicht. Es sei denn, die Kunden wandern ab und kaufen anderweitig ein. Bezos hat auf die öffentliche Kritik sehr rasch reagiert, „erstaunlich rasch“, wie Stuart Heritage (http://www.theguardian.com/technology/commentisfree/2015/aug/17/why-i-am-finally-going-to-boycott-amazon) im Guardian meint. „Customer Obsession“ ist das oberste Leitprinzip für Bezos. Es ist an den Kunden, das Modell Amazon zu ändern. Sie könnten es so halten wie Stuart Heritage, in ihrem eigenen Interesse: „A company that doesn’t respect its own workers doesn’t deserve my money.“ Denn es ist gut möglich, dass das Modell Amazon nicht so einzigartig bleibt, schreibt die New York Times.
Über den Autor: Helge Weinberg ist Berater und Journalist aus Hamburg. Seine Agentur Strategie & Kommunikation ist spezialisiert auf Arbeitgeberkommunikation und Employer Branding. Über diese Themen schreibt er in seinem Blog (http://blog.helge-weinberg.de) sowie als Korrespondent Hamburg / Norddeutschland des „PR-Journals“ und Mitglied der Redaktion des Crosswater Job Guide.
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