Den Bewerbern auf der Spur – Candidate Experience in der Praxis
von Helge Weinberg
Wer erinnert sich nicht mit Wehmut an die ersten Schritte ins Berufsleben? Als Bewerber noch Bewerber waren, also um ein Unternehmen werben mussten? Heute sind beiderseitige Sympathiebekundungen gefragt. ,Candidate Experience‘ lautet das Zauberwort. Ein Begriff, der in den letzten Jahren zuweilen überstrapaziert worden ist, aber zweifellos für essenziell wichtige Prozesse im Recruiting steht.
Jetzt hat Tim Verhoeven, Leiter Recruiting und Personalmarketing bei der Unternehmensberatung BearingPoint, ein Buch über das optimale Bewerbererlebnis herausgegeben. Der Titel lautet schlicht „Candidate Experience“. Hier erfahren Sie einige der wichtigsten Erkenntnisse. Diese Rezension wurde erstmals im RETHINK-Blog von StepStone (http://www.rethink-blog.de/allgemein/den-bewerbern-auf-der-spur-candidate-experience-in-der-praxis/) veröffentlicht, in einer verkürzten Fassung.
Prozesse unter der Lupe
Candidate Experience will an allen relevanten Kontaktpunkten (Touchpoints) ein konsistentes Bild der Arbeitgebermarke und ein positives Bewerbererlebnis schaffen, so eine Definition. Deren gibt es viele. Allein in einem Bewerbermanagementsystem kommt Verhoeven auf knapp 40 Kontaktpunkte, von der Eingangsbestätigung bis hin zur Absage.
Auf 161 Seiten beschreiben Verhoeven und seine Koautoren neben den Grundlagen zu einem guten Teil, wie HR einen Candidate Experience-Prozess planen und umsetzen kann. Das ist ein guter Ansatz, denn Erfahrungen aus der Praxis ermuntern zum Ausprobieren und Nachmachen. Die Praxis kann dabei recht herausfordernd sein, wie HR-Blogger Stefan Scheller zu berichten weiß. Dieser spricht in einem Beitrag von einem gestiegenen Kommunikationsaufwand, der schnell zu einem „Ressourcen-Thema“ werden könne (https://persoblogger.wordpress.com/2016/02/08/die-wahrheit-ueber-candidate-experience-praxiswissen/).
Jeden Kontaktpunkt im Detail betrachten
Mit jeder neuen Stellenausschreibung schicken Unternehmen die Bewerber auf die Reise. Diese Candidate Journey ist die Summe der Kontaktpunkte, mit denen Bewerber in Berührung kommen. Verhoeven empfiehlt, die Prozesskette in Phasen zu unterteilen. Das einfachste Modell sei eine Dreiteilung: vor der Bewerbung, im Bewerbungsprozess und nach der Bewerbung.
Wichtig sei es, die Kontaktpunkte im Detail zu betrachten und nicht nur „oberflächliche Überbegriffe“, meint Verhoeven. Ein Beispiel: Jede Form der Standard-Absage ist separat zu prüfen. Dazu zählen „Absagen nach den verschiedenen Status (im Bewerbungsprozess) und verschiedenen Zielgruppen“ sowie in unterschiedlichen Sprachen. Die Touchpoints können nach bestimmten Zielgruppen, wie Azubis, Young Professionals oder Executives unterteilt werden. Um möglichst viele Kontaktpunkte zu erfassen, ist es sinnvoll, ein gemischtes Team zu bilden – aus dem Recruiting und dem Personalmarketing, dem Hochschulmarketing und dem Onboarding.
Kosten-Nutzen-Verhältnis beachten
Der nächste Schritt ist die Priorisierung der Kontaktpunkte. Für welche Touchpoints sollen als erstes Maßnahmen erarbeitet werden? Wo stimmt das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Zwei wichtige Kriterien in dieser Hinsicht sind die Relevanz für die Bewerber und die Möglichkeit des Unternehmens, Einfluss auf den Kontaktpunkt nehmen zu können. Eine Einordnung der Touchpoints im Rahmen einer Matrix nach diesen beiden Gesichtspunkten schafft Klarheit.
Zu jedem Touchpoint ist die Erwartungshaltung der Bewerber zu recherchieren. Danach gilt es einerseits, die „Hygienefaktoren“ (nach Herzberg) zu definieren, um die grundlegenden Erwartungen der Bewerber zu erfüllen. Andererseits ist es wichtig, motivatorische Maßnahmen in die Touchpoints zu integrieren.
Vom Mystery Shopper zum Mystery Bewerber
Dem Tracking widmet Verhoeven breiten Raum. Auch hier orientiert er sich an der Customer Experience. Genannt sei der Mystery Bewerber – das Pendant zum Mystery Shopper. „Testbewerber“ nehmen die Prozesse in ihrem Unternehmen kritisch unter die Lupe. Bewerber-Interviews und Erfassung der Daten an den Touchpoints kommen als weitere Tracking-Methoden hinzu.
Der Zeitaufwand für ein Candidate Experience-Projekt kann stark variieren. Empfehlenswert ist es, sich damit zu beschäftigen, „was man alles selbst leisten kann und wo man im Einzelfall Unterstützung benötigt“, sagt Verhoeven. Der Mindestaufwand für ein „nicht zu komplexes“ Projekt beträgt zwei bis drei Monate, der Prozess kann aber auch bis zu zehn Monate dauern.
Onboarding nicht vergessen
Während der Bewerbungsprozess für viele Personaler auf dem Prüfstand steht, führt das Onboarding ein eher verschwiegenes Dasein im Personalmanagement. Verhoeven: „Candidate Experience ist als ganzheitlicher Prozess zu sehen“. Die Personaler dürften das Onboarding nicht vernachlässigen. Wobei er sich in seiner Darstellung auf die Zeit zwischen der Vertragsunterzeichnung und den Beginn der Arbeitsaufnahme konzentriert. Wie kann ein Unternehmen den Kontakt zu den zukünftigen Mitarbeitern halten und vertiefen? Seminare und Trainings, aber auch Team-Events und Feste aller Art eignen sich hervorragend dazu, diese schrittweise einzubinden.
Nicht zuletzt kann das Unternehmen von deren unbefangener Sichtweise profitieren: die Neuankömmlinge als Berater. Dies ist ein Aspekt, den auch Peter M. Wald, Professor für Personalmanagement an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK), in einem Interview mit dem RETHINK-Blog (http://www.rethink-blog.de/hr-insights/interview-zum-thema-onboarding-unternehmen-sollen-die-ideen-der-neuen-mitarbeiter-fuer-sich-nutzen/) herausgestellt hatte.
Mit Soja-Milch für ein positives Bewerbererlebnis sorgen
Verhoeven widmet der Candidate Experience für den Mittelstand und der Zusammenarbeit mit Personalberatern jeweils eigene Kapitel. Deren Arbeit könne sich positiv auf das Bewerbererlebnis auswirken. Personalberater müssen sich nicht mit den Prozessen beschäftigen und könnten sich „deutlich persönlicher“ um die Bewerber kümmern, erklärt Verhoeven. Zudem werden sie von den Bewerbern häufiger als eine relativ neutrale Instanz wahrgenommen.
Praxistipps für alle Touchpoints runden das Buch ab. Zum Beispiel dieser: Warum muss es immer Wasser, Kaffee und Limo zum Bewerbungsgespräch geben? Warum nicht einmal Soja-Milch oder laktosefreie Milch anbieten? Immerhin hätten 15 Prozent der Deutschen mit einer Laktose-Unverträglichkeit zu kämpfen.
Über den Autor: Helge Weinberg ist Berater und Journalist aus Hamburg. Seine Agentur Strategie & Kommunikation ist spezialisiert auf Arbeitgeberkommunikation und Employer Branding. Über diese Themen schreibt er in seinem Blog (http://blog.helge-weinberg.de). Er ist Mitglied der Redaktionen des „PR-Journals“, „DPRG Journals“ und des „Crosswater Job Guide“. Zudem schreibt er als Freelancer in diversen technischen Fachzeitschriften über Arbeitgeberkommunikation, Employer Branding und Personalmarketing.