Robot-Recruiting: In der Schlangengrube der Künstlichen Intelligenz
Künstliche Intelligenz im Bewerbungsprozess
In der Umgangssprache haben sich für unbekannte, angsteinflößende und überraschende Begriffe gebildet. Black-Box = Unbekannt. Pandora-Büchse = Nicht öffnen. Schlangengrube = Vorsicht Gefahr. Mit dem Begriff der Künstlichen Intelligenz entwickelt sich ähnliches. Viele Reden davon, viele haben ein eigentlich ungutes Gefühl und nur Journalisten freuen sich wie Bolle, finden ihre Texte doch bei den Chefredakteuren des Landes Begeisterung, Amüsement und den starken Wunsch zur Veröffentlichung. Und nun ist im Recruting die Künstliche Intelligenz angekommen. Im Interview mit Sara Lindemann, Head of Enterprise Customer Development & Co-Founder, viasto GmbH gehen wir der Sache auf den Grund.
Crosswater Job Guide: Für Bewerber und Recruiter ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bewerbungsprozess noch vielfach eine undurchsichtige Blackbox. Inhalte und Funktionsweise sind nicht allen Beteiligten klar und dies führt zu einem Akzeptanzproblem. Wenn jemand diese Black-Box öffnet, was kommt darin zum Vorschein?
Sara Lindemann: Oha – etwas ganz Schreckliches, was die meisten von uns schon in der Schule gefürchtet haben: Mathematik. Aber Spaß beiseite – man muss die große unbekannte Black-Box schon öffnen, um einen verantwortungsvollen Umgang damit überhaupt erst erkennen und entwickeln zu können. Denn auch wenn viele von uns die mathematischen Gleichungen und Formeln dahinter nicht verstehen, müssen wir doch die Auswirkungen bewerten können. Einen Tesla können weder Sie noch ich reparieren, verantwortungsvoll fahren sollten wir ein solches Auto aber schon können. All das im Hinterkopf, könnten wir tatsächlich Potentiale entdecken, die vielen Unternehmen und eben auch Arbeitgebern als Wettbewerbsvorteile dienen.
Crosswater Job Guide: Wo und wie ist diese Black-Box im Bewerbungsprozess eingebettet? Ist sie im Bewerbermanagementsystem (ATS) der Personalabteilung integriert oder wird der Robot-Recruiter schon bei der Bearbeitung eines Online-Bewerbungsformulars im Hintergrund aktiv?
Sara Lindemann: Da gibt es kein “entweder/oder”. Wir sehen KI-Ansätze auf beiden der genannten Seiten. Aufgrund der zwar langsam aber stetig voranschreitenden Digitalisierung von HR-Prozessen gibt es vor allem einen sichtbaren Hebel durch den Einsatz von smarten Algorithmen. Natürlicherweise hat das dann auch mit Prozessen zu tun, die Bewerber und Mitarbeiter involvieren. Wir haben zum Beispiel eine künstliche Intelligenz entwickelt, die smarte Interviewleitfäden für unsere Kunden erstellt, die genau zu dem jeweiligen Kandidaten und der entsprechenden Stelle passen. Ganz einfach auf Knopfdruck. Künstliche Intelligenz kann sich so ganz easy in bestehende Prozesse einfügen und diese maximal vereinfachen und verbessern. Um ein weiteres konkretes Einsatzfeld zu skizzieren, das nicht mal fürchterlich futuristisch ist: Ein Chatbot zum Beispiel kann Bewerbern in vielfacher Hinsicht helfen. Er kann die passende Stelle finden, Fragen über Arbeitgeber beantworten oder eine Bewerbung direkt für den Kandidaten verschicken und sie damit in das Bewerbermanagementsystem des Unternehmens einbetten. Dort gibt es dann wiederum Technologien, die den Bewerber direkt vorab hinsichtlich “Passung” zum Unternehmen und zur Stelle einschätzen.
Wir reden deshalb von einer Black-Box, weil all diese Tätigkeiten bisher originäre menschliche waren, die von HR-Abteilungen aus diesem Grund nur ungern einer vermeintlich uneinsehbaren Technologie übertragen werden. Für viele Organisationen ist das ja auch in der Tat ein Quantensprung. Nichtsdestotrotz werden diese Technologien kommen und noch viel mehr Einsatzszenarien abdecken, die wir derzeit noch gar nicht konkret greifen können.
Crosswater Job Guide: Welche Bewerberdaten werden durch die Black-Box hauptsächlich genutzt?
Sara Lindemann: Theoretisch sprechen wir hier über einen holistischen Ansatz. Das heißt, von Persönlichkeitsmerkmalen bis hin zum Berufshintergrund und der Interpretation von konkreten Skills ist alles möglich. Die Frage ist jedoch, was davon tatsächlich relevant für die Passung eines Kandidaten zu einem Unternehmen oder einer konkreten Stelle ist. Wir sehen beispielsweise schon jetzt einen Rückgang des Stellenwertes von “Hard Skills”. Hintergrund: Die Halbwertzeit von Fachkenntnissen geht in den meisten Branchen auf wenige Jahre zurück. Da viele Kenntnisse daher kaum vorhersagbar sind, greifen viele Tools folgerichtig zunehmend auf Faktoren wie die Persönlichkeit oder soft Skills zurück (Stichwort 21st Century Skills, dazu haben wir auch bereits ein Webinar gehalten), einfach, weil diese zeitloser sind. Es gibt hier viele KI-Ansätze, die aber teilweise diagnostisch fragwürdig sind, da man hier einerseits hinterfragen kann, wie die Datenpunkte erfasst wurden und andererseits, wie gesagt, auch die Relevanz für den “Job Match” kritisch infrage stellen kann. Außerdem wird häufig auch nur mit korrelativen Zusammenhängen gearbeitet, die nicht weiter hinterfragt werden und unter Umständen zu fatalen Fehlentscheidungen führen können, wie das zum Beispiel auch in der Auswahl bei Amazon passiert ist, wo der Algorithmus weibliche Bewerber diskriminierte. Amazon hat den Algorithmus dann trotz Überarbeitung eingestellt.
Crosswater Job Guide: Künstliche Intelligenz wird ja erst durch Machine Learning / Maschinelles Lernen zu einem wirkungsvollen Instrument. Dazu sind jedoch auch andere als nur Bewerberdaten notwendig. Welche Daten werden zusätzlich herangezogen?
Sara Lindemann: Wie gesagt: Je mehr Datenpunkte herangezogen werden können, je vollständiger wird das Bild. Allerdings ist das nicht immer gut so! Konkret: Ist mein privates Verhalten beispielsweise auf Facebook tatsächlich eine Quelle für Persönlichkeitsprofiling im Job-Kontext? Auch wenn es technisch möglich ist und in einigen Ländern, die unkritischer mit Daten umgehen, bereits praktiziert wird, möchte ich das klar in Zweifel ziehen. Wir sind in Deutschland zurecht kritischer, was dies betrifft und sollten uns daher auf Datenquellen fokussieren die tatsächlich Relevanz haben. Dabei sollten wir eben in Kauf nehmen, dass unsere technologisierte Vorauswahl dann weniger vollständig ist, weil sie Twitter & Co. nicht inkludieren, sondern sich bestenfalls auf XING & Linkedin beschränken. Außerdem muss man sich immer fragen, was genau der Algorithmus versucht vorherzusagen und ob diese Vorhersage überhaupt validiert wurde. Meist fehlen ja Daten für die komplette Zielfunktion. Wenn der Algorithmus beispielsweise Facebook Daten nutzt, um erfolgreich vorherzusagen, welche Kandidaten eingestellt wurden, dann müssen wir uns trotzdem fragen, ob die Einstellungsentscheidung auch richtig war. Da springen viele Lösungen viel zu kurz. Das ist dann gefährlich.
Beispielhaft kann man hier Sprach- und Mimikauswertung oder Textanalyse nennen. Diesbezüglich ist aus meiner Sicht entscheidend, ob die korrelativen Zusammenhänge überhaupt sinnvolle/ethisch vertretbare Entscheidungen ermöglichen und vor allem auch wie transparent die Prozesse für den Kandidaten sind. Es muss Klarheit herrschen, wie welche Bereiche analysiert werden. Man muss aus meiner Sicht den Bewerbern deutlich aufzeigen, welchem Zweck die Analyse dient und welche Daten wem zugänglich gemacht werden. HR verschenkt sonst das Potenzial, Technologien einzusetzen, die dabei helfen können, eine unvoreingenommene und auf Diversität ausgelegte Kandidatenauswahl zu leisten. Denn, das muss man eben auch sagen: Da ist der Mensch ja leider immer noch sehr in seinen Stereotypen gefangen. KI bietet die Chance, bessere Entscheidungen zu treffen – aber nicht die Garantie. Wenn dann die eigentlich hilfreichen Technologien im Kandidatenmarkt generell einen schlechten Ruf bekommen, besteht auch die große Gefahr, dass sie direkt “verbrannt” sind, obwohl sie Gutes leisten könnten.
Crosswater Job Guide: Kann ein menschlicher Recruiter in den Entscheidungsprozess eingreifen oder die Robot-Entscheidungen beeinflussen bzw. übersteuern?
Sara Lindemann: Ja unbedingt! Das Entscheidende ist jedoch, dass HR schon heute die Kompetenzen aufbauen muss, um solche Technologien morgen auszuwählen, einzusetzen und dann in letzter Instanz auch kontrollieren und steuern zu können. Blindes Vertrauen und naive Vorstellungen schaffen nur weitere Blackboxen und das führt sicherlich zu einer negativen Konnotation solcher Tools, sowohl auf Unternehmens- als auch auf Bewerberseite. Schon bei der Auswahl des Anbieters von KI-Lösungen muss man kritisch hinterfragen, welche Datenquellen herangezogen werden, um den Algorithmus zu programmieren bzw. trainieren. Zudem sollte man wissen, welche Selektionskriterien angewendet werden und wie man diese für das eigene Unternehmen anpassen muss.
Crosswater Job Guide: Das Recruiting-Umfeld wird zusehends von gesetzlichen Anforderungen beeinflusst, sei es die DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) oder das AGG (Allgemeines Gleichstellungsgesetz). Muss sich Kollege Recruiting-Robot auch an diese Vorschriften halten? Braucht ein Arbeitgeber künftig die Zustimmung des Bewerbers zur Nutzung von Künstlicher Intelligenz im Bewerbungsverfahren?
Sara Lindemann: Naja, das AGG ist ja eigentlich schon ein “alter Hut”. Aber wie schon beschrieben, muss man hier als Unternehmen – Gesetz hin oder her – ganz deutlich auf Transparenz im Bewerbungsverfahren setzen, wenn man innovative KI-Lösungen nutzen möchte. Man wird auch auf Bereiche stoßen, die möglicherweise noch gar nicht hinreichend rechtlich geregelt sind. Die DSGVO wurde ja bereits entworfen, als das Thema KI im Recruiting noch weniger konkret einschätzbar war. Sie liefert zwar definitiv Hinweise darauf, was ein Algorithmus “darf”, es gibt aber aus meiner Sicht noch sehr viel Klärungsbedarf in der Praxis. Die Skepsis vor unkontrollierbaren Algorithmen ist derzeit allgegenwärtig und es wäre meiner Meinung nach fatal, hier auf klare aufklärende Kommunikation zu verzichten. Das gilt wie gesagt auch unabhängig von gesetzlichen Regulierungen. Denn positiv ausgedrückt: Bestenfalls nutzen Arbeitgeber ja KI-Technologien, um Bewerbern Sichtbarkeit zu verschaffen, die es via menschlichem Auswahlverfahren nicht zum Erstgespräch geschafft hätten, aber aufgrund ihrer Fähigkeiten doch zum Job und zum Unternehmen passen! Wenn ein Algorithmus darauf ausgelegt ist, zum Beispiel das Geschlecht in seiner Voreinschätzung zu ignorieren, ist das eine gute Sache und erweitert den Talentpool für jedes Unternehmen. Und das wäre ja ein Gewinn für beide Seiten.
Crosswater Job Guide: Welches sind die wichtigsten Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz und welche Handlungsempfehlungen werden von viasto ausgesprochen?
Sara Lindemann: Wir haben hierzu eine Checkliste entworfen, die es auch Laien ermöglichen soll, die richtigen Fragen bei der Prüfung von KI-Tools im HR zu stellen. Die Checkliste ist auch die Basis unseres nächsten Webinars, in dem wir einige KI-Tools vorstellen werden, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen.
Jeder verantwortungsvolle Anwender muss sich die Zeit nehmen, KI-Tools oder KI-Anbieter gewissenhaft zu bewerten und die vermeintliche Blackbox richtig auszuleuchten. Universelle Ablehnung ist genau wie blinde Technologie-Gläubigkeit ein schlechter Ratgeber. Wir sind da in Deutschland ja oft ein wenig zu binär unterwegs. Entweder trauen wir uns erst gar nicht an neue Technologien heran oder wollen gleich eine Lösung für alles. Wir reden hier aber von Innovation, und die macht vor allem dann Spaß und bringt uns voran, wenn sie ergebnisoffen, aber verantwortungsvoll ausprobiert wird. Wie man bei der Bewertung von KI-Tools am besten vorgeht, zeigen wir wie gesagt in unserem Webinar am 28.3.
Crosswater Job Guide: Vielen Dank für dieses Interview.
Zusatzinformation: Am 28.03. von 15.00 – 16.00 Uhr bietet viasto ein spannendes Webinar mit dem Titel „Ist das KI oder kann das weg?”. Referenten sind unsere Interview-Partnerin Sara Lindemann sowie die renommierte HR-Expertin Anna Ott. Anmeldungen für die kostenfreie Teilnahme sind ab sofort möglich unter: https://pages.viasto.com/webinar-280319